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| Das schreiben andere über uns… |
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Radioreportagen zum Thema Dyskalkulie/Rechenschwäche |
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Deutschlandfunk, 16.11.2022 von Nicole Albers | |
Zum Anhören: DLF_2022.mp3 (4:38 min, 4,2 MB) |
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NDR 1, 16.02.2012 von Cora Blanken |
Zum Anhören: NDR1_2012.mp3 (2:16 min, 2,0 MB) |
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WDR 5, 16.06.2008 von Daniela Kurz | |
Zum Anhören: WDR5_2008.mp3 (27:07 min, 6,2 MB) |
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NDR 1, 20.04.2005 von Lennart Herberhold |
Zum Anhören: NDR1_2005.mp3 (5:55 min, 1,0 MB) |
Die Welt vom 30. April 2021 |
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Für Mathe ist es nie zu spät
Grundlegende Kenntnisse der Mathematik sind im Leben wichtig – doch Erwachsene haben oft große Lücken. Dagegen lässt sich etwas tun.
von Mareike Knoke
Binomische Formeln, Integralrechnung, Stochastik? „Ach, das habe ich in der Schule nie so richtig kapiert“, kokettiert heute so mancher Erwachsener mit seinen Wissenslücken. Wie schlecht man in Mathe war, ist ein beliebtes Thema beim Party-Smalltalk. Miserabel in Rechtschreibung zu sein oder nicht richtig lesen zu können, das würde dagegen vermutlich niemand gerne zugeben im Land der Dichter und Denker.
Laut einer repräsentativen Umfrage von 2020 im Auftrag der Körber-Stiftung und der „Zeit“ schätzt jeder Fünfte der befragten Erwachsenen seine Leistungen im Fach Mathematik als unterdurchschnittlich ein. Und etwa die Hälfte aller Befragten gibt an, dass sie im Laufe ihrer Schulzeit Probleme hatten, dem Mathematikunterricht zu folgen, davon wiederum die Hälfte im Laufe der Mittelstufe (Klasse 7 bis 9 beziehungsweise 10 ). Insgesamt sagten 58 Prozent, sie hätten den Matheunterricht als „mühsam und anstrengend“ empfunden. Die meisten vermissten den Anwendungs- und Alltagsbezug des Unterrichts – jenen Bezug also, der ihnen verdeutlicht, wie und wo sie Mathematik als Koch, Buchhändlerin, Kfz-Mechanikerin, im Ingenieur- oder Psychologiestudium später brauchen werden.
Wie groß die Lücken sind, wurde im zurückliegenden Jahr vermutlich besonders Eltern schulpflichtiger Kinder beim Homeschooling bewusst. Wer seine brachliegenden Kenntnisse ad hoc auffrischen möchte, kann sich dafür in einem der vielen Mathe-Tutorials im Netz, etwa bei YouTube, schlau machen, zum Beispiel von „Herrn Mathe“ oder Daniel Jung. Eine gute Möglichkeit, in Grundrechenarten fitter zu werden, bietet das Grundbildungsangebot der Volkshochschulen (VHS) in coronakonformen Online-Kursen oder über das VHS-(Selbst-)Lernportal. Deutschlandweit haben die VHS über 900 Mathekurse unterschiedlichster Art – auch für Studium und Beruf – im Angebot.
Eine weitere Möglichkeit bieten Websites wie mathebibel.de. Der Mathematik-Enthusiast Andreas Schneider hat die Seite vor ein paar Jahren aufgesetzt. Man kann sich kostenlos kurze Definitionen anschauen – in Algebra, Analysis, Geometrie und Stochastik und ihren diversen Unterthemen. Schneider hat zahlreiche Beispielaufgaben zusammengestellt. Die Idee kam ihm bereits während des Studiums der Forstwissenschaft und des Ressourcenmanagements: Die Studierenden mussten beispielsweise Fließgeschwindigkeiten in Baumstämmen errechnen, mit Luftdruck und dem Umfang von Bäumen kalkulieren. „Viele Kommilitonen saßen ratlos vor solchen Aufgaben und fragten häufig mich“, erinnert sich Schneider, der selbst in der Schule Mathematik im Leistungskurs und immer Spaß an dem Fach hatte.
Die meisten E-Mails mit Fragen zur Mathematik kämen von Erwachsenen, sagt Schneider. „Die Schwierigkeiten in der Schule fangen meistens zu dem Zeitpunkt an, wenn Zahlen durch Buchstaben ersetzt werden und vielen der konkrete Anwendungsbezug nicht mehr klar ist“, sagt Schneider. Und das sei fatal – Mathematik müsse schon in der Schule „als Teil der Gesellschafts- und Verbraucherbildung“ vermittelt werden. „Und sei es, um aktuell in der Corona-Pandemie zu verstehen, was es mit den Inzidenzwerten auf sich hat.“
Der Deutsche Volkshochschul-Verband (DVV) hat für einen Imagefilm in Betrieben, im Jobcenter und bei der Industrie- und Handelskammer nachgefragt: Für nahezu alle der in Deutschland anerkannten 320 Ausbildungsberufe braucht man Mathematik – mindestens sollte man die Zusammenhänge zwischen Bruchrechnung, Dezimal- und Prozentrechnung kennen und sich mit Volumen und Größen, Dreisatz sowie einfachen Gleichungen auskennen. Und genau hier gibt es tatsächlich oft Defizite bei Auszubildenden und Mitarbeitenden, wie befragte Betriebe bestätigten.
Für die Stiftung Rechnen untersuchten die Mathematikdidaktiker Anselm Lambert (Universität Saarbrücken) und Ulrich Kortenkamp (Universität Potsdam) bereits 2013 die Rechenkenntnisse von Erwachsenen und stellten große Lücken in grundlegenden Rechenarten fest, die eigentlich bereits in der Grundschule vermittelt werden. Beispielaufgabe: Ein fensterloser Kellerraum ist 5 Meter x 6 Meter groß. Die Wände sind 2,50 Meter hoch. Ein Fünf-Liter-Eimer Wandfarbe reicht für 30 Quadratmeter. Wie viele Eimer dieser Farbe sollte man kaufen, wenn man die Wände und die Decke streichen möchte? Nur die Hälfte der an der Studie Teilnehmenden kam auf die richtige Lösung: drei Eimer. Oder: Die Kantenlänge eines Würfels wird verdoppelt. Was passiert mit dem Volumen? Dass dieses sich verachtfacht, wussten nur 33 Prozent der Teilnehmenden.
„Es hapert an Grundsätzlichem wie etwa Raum- und Größenvorstellung. Und der Gedanke, dass man einen großen Teil des Mathematikunterrichts später nicht braucht, ist einfach falsch“, sagt Anselm Lambert: „Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen neuen Kühlschrank kaufen und müssen sich entscheiden, ob Sie ein energiesparendes, aber teures Gerät kaufen oder aber einen herkömmlichen, vermeintlich billigeren Kühlschrank. Zu berechnen, wann sich das teure Energiespargerät amortisiert haben wird, ist grundlegendes Wissen, das jeder braucht.“ Und doch wussten es in der konkreten Aufgabe nur 43 Prozent der Teilnehmenden.
Eine mögliche Erklärung für die Schwächen: Lange Zeit sei Mathematik in der Schule rein verfahrensorientiert, also auf Rechenwege bezogen, vermittelt worden und nicht verständnisorientiert, erläutert Lambert. „Problemlösen, Argumentieren und Übertragen in konkrete Situationen spielte weniger eine Rolle. Das erklärt auch, warum viele getestete Erwachsene Probleme mit längeren Textaufgaben haben.“ Zwar wurden 2003 in Deutschland neue Bildungsstandards mit mehr Anwendungsbezug für den Mathematikunterricht eingeführt und für die Oberstufen-Mathematik gibt es seit 2012 neue Standards, die Gebiete wie etwa die Integralrechnung anwendungsorientierter vermitteln. Doch es sei ein langer Prozess, bis solche Standards tatsächlich an allen Schulen flächendeckend implementiert seien und sich positiv auf den Unterricht auswirkten, weiß der Mathematikprofessor aus Erfahrung.
Laut der PIAAC-Studie der OECD, die unter anderem auch Kompetenzen im Rechnen bei Erwachsenen abfragte, erreichten in Deutschland 13,9 Prozent der Getesteten gerade einmal die Kompetenzstufe 1 – das entspricht dem Niveau der 2. und 3. Klasse. Warum die Deutschen Mathematik offenbar weniger Bedeutung beimessen als etwa Franzosen, Finnen oder Russen, hat noch niemand im Detail erforscht. Verwunderlich ist es, denn Deutschland gilt als Talentschmiede für exzellente Ingenieure und Naturwissenschaftler, für deren Studium Mathematik grundlegend ist.
Die private Wilhelm Büchner Hochschule in Darmstadt bietet neben Ingenieur- und Informatik-Studiengängen für Berufstätige auch mehrmonatige Hochschulzertifikatskurse zur Auffrischung von Mathematikkenntnissen an. Guido Walz, Professor für Angewandte Mathematik, unterrichtet sowohl Berufstätige, die noch einen Studienabschluss erwerben wollen, als auch Teilnehmende an Zertifikatskursen. „Was zum Beispiel Differenzialgleichungen sind, haben viele schlicht vergessen“, sagt er. In den Zertifikatskursen sei die Klientel gemischt, darunter etwa die Leiterin eines Instituts für Schülernachhilfe oder ein Lehrer an einer Privatschule, der zusätzliche Kenntnisse brauchte, um auch Mathematik unterrichten zu können.
Während Kurse an der Wilhelm Büchner Hochschule Mathematik auf Hochschulniveau vermitteln und zwischen 250 und 360 Euro im Monat kosten, ist an einer Volkshochschule ein Rechen- oder Mathematikkurs, der auf einen Schulabschluss oder ein Studium vorbereitet, für unter 100 Euro zu haben. Die Selbstlernkurse aus dem Grundbildungsbereich (Lesen, Schreiben, Rechnen) über
vhs-lernportal.de sind kostenfrei.
Wie sinnvoll ist es, Mathematik im Selbstlernsystem zu pauken? „Wer nur Verschüttetes auffrischen möchte und lernerprobt ist, kommt vermutlich gut allein zurecht: mit den Erklärungen zu Zahlen, Mengen und Rechenoperationen und im Anschluss mit dem selbstständigen Lösen von Aufgaben, die die Lernplattform zur Verfügung stellt“, sagt Michael Thiel, der beim Deutschen Volkshochschul-Verband das Projekt
„vhs-Lernportal“ leitet. Zu den Selbstlernaufgaben gebe es eine automatische Rückmeldung, zudem würden Online-Tutoren den Lernweg begleiten.
Ob das Alleinlernen oder Online-Kurse via Zoom mit anderen Teilnehmenden besser geeignet seien, hänge unter anderem von der individuellen Selbstlernfähigkeit ab. Im Team sei die Motivation oft größer, weil man sich direkt über Aufgabenstellungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen könne. „Diese Stabilität in der Gruppe ist nicht zu unterschätzen, besonders wenn man traumatische Erfahrungen in der Schule gemacht hat“, sagt Thiel.
Laut Bettina Schwarz, therapeutische Leiterin am
Lerntherapeutischen Zentrum Rechenschwäche in Köln, gibt es in jeder Schulklasse etwa fünf Prozent Schülerinnen und Schüler mit Dyskalkulie. Im Gegensatz zu Wissenslücken, die oft schon mit gut gemachten Video-Tutorials zu überbrücken sind, ist Dyskalkulie eine therapiebedürftige Lernstörung. Das Zentrum bietet auch für Erwachsene Diagnostik und Therapie an – im Schnitt kämen pro Monat zwei Erwachsene, um feststellen zu lassen, ob sie unter Dyskalkulie leiden, sagt Bettina Schwarz. Allerdings: „Bei Kindern finanzieren die Jugendämter die Therapie. Erwachsene dagegen müssen so etwas selbst bezahlen.“
Braunschweiger Zeitung vom 09. Dezember 2016 |
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Damit Mathe kein Hassfach wird
Die
Bürgerstiftung unterstützt ein Projekt, um Rechenschwäche früh zu erkennen.
von Karsten Mentasti
Mehr als die Hälfte aller Braunschweiger Grundschulen nimmt an einem Projekt teil, mit dem bei Erstklässlern mögliche Rechenschwächen früh erkannt werden. Durch Förderung kann dann gleich dagegen angegangen werden, dass diese Schwäche gar nicht erst richtig zur Geltung kommt.
„Denn das würde die schulische Entwicklung der Kinder beeinflussen, denn in der Mathematik baut sich ja alles aufeinander auf“, sagt
Dr. Michael Wehrmann, Leiter des Instituts für Mathematisches Lernen in Braunschweig. Das Projekt hat den Namen
ILSA, es wurde erst vor drei Jahren in Dortmund und Düsseldorf unter Mitwirkung von
Wehrmann entwickelt. Der Therapeut bei Rechenschwäche bietet auch
ILSA-Fortbildungen für Lehrer an.
Die
Bürgerstiftung Braunschweig unterstützt die frühe mathematische Entwicklung der Grundschüler. So hat sie für alle teilnehmenden Braunschweiger Schulen die Lizenzkosten und die Anschaffung von Materialien in Höhe von jeweils rund 750 Euro übernommen. Außerdem teilen sich Stiftung und Schulen die Kosten für die Fortbildung.
Damit wird es den Lehrkräften ermöglicht, mit Hilfe von Materialien schnell zu erkennen, ob ein Kind von einer Rechenschwäche betroffen ist. „Das Programm lässt sich leicht in den Unterricht integrieren“, sagt
Wehrmann bei einem Besuch der
Grundschule Altmühlstraße in der Weststadt. Sie ist als vierzügige Schule eine der großen im Stadtgebiet.
Mit allen 91 Erstklässlern wurden nach einigen Wochen Schulzeit anhand eines Diagnosebogens etwa zehnminütige Einzelgespräche geführt. Dabei wurde bei jedem Kind der Lern- und Entwicklungsstand in mathematischem Denken erfasst. So ein „Screening“ wird Ende des ersten Schuljahrs noch einmal wiederholt.
Doch schon nach der ersten Befragung zeigt sich, welche Kinder eine zusätzliche Förderung benötigen. Fünf bis sechs Kinder sind das pro Klasse. „Eine Förderung gleich am Anfang bringt viel“, findet Helmut Gierga, Rektor der Offenen Ganztagsschule, die schon im zweiten Jahr an
ILSA teilnimmt. „Die Kinder sollen ja nicht irgendwann die Lust am Rechnen verlieren“, ergänzt er. Schon drei Lehrerinnen der Schule haben sich fortgebildet, Kornelia Ksoll und Maren Koppe leiten derzeit die Förderung, die pro Klasse einmal in der Woche für 45 Minuten parallel zum Unterricht stattfindet.
Ausgegrenzt werden die Kinder, die besonders gefördert werden, nicht, im Gegenteil: „Die anderen Kinder sind manchmal neidisch, dass die kleine Gruppe etwas Besonderes machen darf“, so Ksoll.
Die Mädchen und Jungen lernen spielerisch, dass Rechnen nicht durch Zählen der Finger erfolgt. Oder dass es nicht genügt, Ergebnisse von Aufgaben auswendig zu lernen. „Bei 5 plus 2 klappt das noch, später nicht mehr“, so Kornelia Ksoll. Maren Koppe erläutert: „Viele können auch mit den Begriffen weniger und mehr nicht richtig etwas anfangen.“
Das ILSA-Projekt
- 22 Grundschulen aus Braunschweig sind für den Einsatz von ILSA-Materialien vorbereitet, ihre Lehrkräfte dafür fortgebildet.
- Dazu kommen weitere 26 Grundschulen aus der Region, darunter 7 aus dem Landkreis Wolfenbüttel.
- Die Abkürzung „ILSA“ steht für „Individuums- und lernentwicklungszentriertes Screening Arithmetik“.
Gifhorner Rundschau vom 01. Juni 2013 |
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Wie beugt man Rechenschwäche vor?
60 Erzieherinnen des DRK informierten sich beim Fachtag „Dyskalkulie“ über Lernmethoden
von Jörg Brokmann
Der Begriff Dyskalkulie ist nicht unbedingt geläufig, beim Thema Rechenschwäche meinen viele Menschen mitreden zu können. Dabei meint beides dasselbe.
„Wir stellen in den Kindertagesstätten die Rechenschwäche meist gar nicht fest“, sagen die Erzieherinnen Carola Huismann, Tanja Schulze und Melanie Klinger, die mit dem gesamten Team aus dem DRK-Kindergarten in Gamsen zum gestrigen DRK-Fachtag „Dyskalkulie“ an den Wasserturm in Gifhorn gekommen sind. „Ungefähr fünf Prozent der Kinder sind davon betroffen, doch erst in der Schule, meist im ersten Schuljahr, fällt es den Lehrern auf“, bestätigt
Dr. Michael Wehrmann. Der wissenschaftliche Leiter des Instituts für mathematisches Lernen in Braunschweig hat durch den Fachtag geführt.
Warum lädt das DRK die Mitarbeiter der Kindertagesstätten dann überhaupt zur Fortbildung ein? „Wir wollen die Aspekte der Zahlbegriffsentwicklung aufzeigen, die Kolleginnen sensibel für das Thema machen“, schildert DRK-Koordinatorin Christiane Hempelmann einen Beweggrund für das Treffen.
Am Vormittag waren die 60 überwiegend weiblichen Erzieherinnen von Experten wie
Wehrmann theoretisch ins Thema mit Fallbespielen eingeführt worden. Nachmittags wurden in Workshops Theorie und Praxis verbunden. Dazu gehört beispielsweise auch „Mensch-Ärger-dich-nicht“-Spielen.
Und bringt die Veranstaltung etwas für den Alltag mit den Kindern? „Ja, ich denke schon, ein bisschen kann man mitnehmen. Es ist spannend“, sagt die 38-jährige Tanja Schulze. Ihre Gamsener Kollegin Melanie Krüger (31) hält diese Fortbildungen für „sehr wichtig“ und wünscht sich mehr davon. Besonders um für die Bereiche Sprache, Motorik und Konzentration mehr Rüstzeug zu bekommen. „Denn da liegen die größten Problem“, betonen die Erzieherinnen.
Stichwort Dyskalkulie
Dyskalkulie ist eine Lernstörung im Bereich des Erlernens, Verstehens und Anwendens mathematischer Grundkenntnisse. Synonyme sind Zahlenblindheit, Rechenschwäche oder Arithmasthenie.
Familienmagazin clic clac vom Monat Juni 2009 |
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Mathezeugnisse – kein Buch mit sieben Siegeln
Bald gibt es Zeugnisse: Beurteilungen im Zeugnis – Hinweise auf Rechenschwäche?
von Angelika Heemann
Zeugnisse – für manche Kinder sind es die ersten, allerdings noch ohne Noten – dafür mit einer Leistungsbewertung. Beurteilt werden nicht nur das Arbeitsverhalten, sondern auch die Fächer, wie Deutsch und Mathematik.
Eltern sollten am Ende der ersten Klasse aufmerksam auf die „verbale Leistungsbewertung“ in den Zeugnissen ihrer Kinder schauen, wenn es noch keine Noten, sondern ausformulierte schriftliche Beurteilungen sogenannte „Wortgutachten“ gibt. Zeugnisse sind in der Regel in den ersten zwei Schuljahren noch ohne Ziffern-Noten, dafür aber mit einer individuellen Leistungsbewertung, ein sogenanntes Wortzeugnis. Sie sind für Eltern nicht immer leicht zu entschlüsseln, auch wenn sie sich positiv anhören. Was die Noten von 1 bis 6 bedeuten, ist jedem aus seiner eigenen Schulzeit noch hinreichend bekannt. „Wortgutachten“ in Zeugnissen sagen oftmals mehr als Zensuren. Sie sagen was klappt und machen deutlich, was besser werden muss. „Wenn Eltern eine solche Leistungsbewertung in Mathematik im Zeugnis, wie bei Anna am Ende der ersten Klasse, lesen, sind sie häufig zufrieden. Schließlich werden die meisten Aufgaben, mal ohne oder mal mit Hilfsmitteln, richtig gelöst. Wichtig ist, Eltern sollten sich die Zeugnisse ansehen und die Beurteilungen genau lesen. „Solche Zeugnisformulierung, wie hier im Fach Mathematik, kann bereits ein ‚Aufmerkpunkt‘ für Eltern sein, der auf eine Teilleistungsstörung im Rechnen hinweisen könnte“, sagt
Dr. Michael Wehrmann, Leiter des Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig und wissenschaftlicher Beirat im Zentrum für angewandte Lernforschung, einer gemeinnützigen GmbH.
Ganz wichtig für Eltern ist, sie sollten ihr Kind beim Rechnen genau beobachten, wie ihr Sohn oder Tochter zu den Ergebnissen kommt! Hierzu der Experte, der die Beurteilung von Anna in Mathematik im Zeugnis übersetzt und erläutert: „Wenn Kinder am Ende der ersten Klasse nicht über den Zehner rechnen können und bei Aufgaben im Zahlbereich bis 20 mit Hilfsmitteln, wie Finger, Stifte oder Steckwürfel ihre Aufgaben lösen, dann ist der Einstieg ins Rechnen nicht geschafft. Aufgaben wie 8 + 7 oder 15 – 7 löst Anna, wie der Lehrer hier analysiert hat, indem sie jede Aufgabe getrennt beispielsweise an den Fingern vorwärts bzw. rückwärts zählt. Es steht damit der Verdacht, dass Anna eine Rechenschwäche entwickelt, da ihr der Umgang mit Zahlen als Stellvertreter von Mengen verborgen geblieben ist“. „Ich denke, die Lesehilfe für Zeugnisse, wie sie der Experte für Mathematik zur Verfügung stellt, trifft zu. Eltern, denen Problematiken bei ihren Kindern auffallen, sollten unbedingt den Kontakt zu den Lehrern schon in der Mitte der 1. Klasse, suchen“, sagt Joachim Leimbrock, Lehrbeauftragter der Universität Osnabrück für den Erstunterricht in Mathematik. Manche Schüler tun sich schwer beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Je früher eine Rechenschwäche beim Kind erkannt wird, desto leichter lässt sie sich aus der Welt schaffen.
Bis zu acht Prozent der Schüler eines Jahrgangs leiden unter einer solchen Teilleistungsstörung wie der Legasthenie, der Lese- und Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche. Dummheit und Faulheit sind selten der Grund, warum ein Kind ab Klasse 3 schlechte Noten nach Hause bringt!
Hinweise auf eine Rechenschwäche
Eine Rechenschwäche wird sehr häufig nicht in der ersten Klasse erkannt, so dass sich Defizite anhäufen und in die nächste Klasse übernommen werden. In der Regel stellen Eltern bereits früh fest, dass etwas mit den „Rechenkünsten“ ihres Kindes nicht in Ordnung ist:
- Bei den Hausaufgaben grübelt das Kind stundenlang, statt zu rechnen
- Das Kind fragt nach der Richtigkeit eines Ergebnissen in einer Weise, die völlige Orientierungslosigkeit bedeutet
- Das Kind weiß am nächsten Tag nicht mehr, was nach dem Üben als verstanden galt
- Der Aufwand des Übens und die Resultate fallen stark auseinander
- Das Fach Mathematik wird für alle Beteiligten zu einer großen Belastung
Zeugnis-Sprache – nicht immer leicht!
Übersetzungshilfe für Eltern:
Dr. Michael Wehrmann, Experte für mathematisches Lernen, interpretiert Zeugnisformulierungen für das Fach Mathematik
Das schreibt der Lehrer: |
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Das sagt der Experte: |
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… kann die meisten Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenbereich bis 20 mit Hilfsmitteln lösen, mathematische Beziehungen zu erfassen fällt ihm noch schwer. |
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… hier wählt der Lehrer im Rahmen seiner Bewertung optimistische Formulierungen. Es bleibt zu beobachten, ob sich das Kind am Anfang des nächsten Schuljahres die mathematischen Beziehungen im Zahlenraum bis 10 erfasst und sich von den Hilfsmitteln lösen kann! Geschieht dies nicht, drohen Probleme im Sinne einer Rechenschwäche. |
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… kann Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10 nicht immer ohne Hilfsmittel lösen. Beim Rechnen im erweiterten Zahlenraum bis 20 ist sie noch unsicher und benötigt stets Anschauungsmaterial, um zur Lösung zu gelangen. |
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… der Mathematik-Lehrer hat hier genau hingesehen. Das Lernziel der ersten Klasse ist nicht erreicht. Die deutlichen Hinweise sind: – Zahlenraum bis 10 nicht erschlossen – Kind ist bei sogenannten zählenden Verfahren geblieben |
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… kann im Zahlenraum bis 20 angeben, notieren und vergleichen sowie die Aufgaben der Addition und Subtraktion unter gelegentlichem Einsatz von Hilfsmitteln überwiegend sicher, aber noch sehr langsam lösen. Es fällt ihm schwer, sich auf neue Aufgaben einzustellen und er benötigt demzufolge noch zusätzliche Hilfe. |
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… ihm fallen neue Rechenaufgaben schwer. Er muss zum Lösen von Aufgaben ein Schema vorgegeben bekommen, um sie überhaupt abarbeiten zu können. Beides lässt vermuten, dass er schon die „alten“ Aufgaben im Zahlenraum bis 10 nicht verstanden hat und daher das Lernziel nicht erreicht wurde. |
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„Eltern sollten auf folgendes achten: Wenn sich Kinder am Beginn der zweiten Klasse nicht vom zählenden Rechnen ohne oder auch mit Material, wie Finger, Stifte usw. vollständig gelöst haben und weitere Auffälligkeiten zutreffen, ist eine Förderdiagnostik angeraten. Hier werden gründlich Vorwissen, mathematisches Verständnis und Fördermöglichkeiten geklärt. Sie besteht aus einer Diagnostik, einem individuellen Bericht sowie Beratungsgespräch.“
(Dr. Michael Wehrmann vom Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig)
Infos über Rechenschwäche
- Nach aktuellen Studien leiden 5-8% aller Grundschüler an einer Rechenschwäche.
- Rechenschwäche ist kein Zeichen verminderter Intelligenz – alle Kinder können betroffen sein.
- Verstärktes häusliches Üben hilft bei Rechenschwäche nicht – eher wird der Leidensdruck erhöht.
- Eine Dyskalkulie kann auch in höheren Klassen lerntherapeutisch behoben werden.
Informationsabend für Eltern zum Thema Rechenschwäche
Am Mittwoch, den 17.06.2009 findet um 19.30 Uhr in Informationsabend zum Thema „Leistungsbeurteilungen im Zeugnis ein Hinweis auf eine Rechenschwäche?“ statt. Verantstaltungsort: Institut für Mathematisches Lernen (Foyer, 1.OG), 38100 Braunschweig, Steinweg 4, Tel. 0531 - 12 16 77 50, Internet:
www.zahlbegriff.de Eintritt: frei. Eine Anmeldung ist wegen der begrenzten Sitzplatzanzahl jedoch erforderlich.
Dieser Abend richtet sich an Eltern, deren Kinder die erste oder zweite Klasse besuchen, um ihnen Kriterien an die Hand zu geben, was eine normale Entwicklung im Rechenunterricht ausmacht und können Zeugnisse schon Anhaltspunkte für eine Rechenschwäche sein? Ist die 1. Klasse bereits abgeschlossen, wird aufgezeigt, ob die mathematischen Voraussetzungen für die nächste Klasse vorliegen. Informationsmaterial kann kostenlos beim Zentrum für angewandte Lernforschung angefordert werden (
www.arbeitskreis-lernforschung.de).
Alle Artikel der | | Serie zu Dyskalkulie |
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Welt am Sonntag vom 12. April 2009 |
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Die beängstigende Welt der Zahlen
Fünf Prozent aller Kinder gelten als massiv rechenschwach. Ständiges Pauken hilft ihnen nicht.
Nötig ist eine frühe und gezielte Förderung.
von Hans-Joachim Lukow
Nicht jeder Mensch findet leicht einen Zugang zur Welt der Zahlen. Viele Erwachsene denken heute noch mit Schaudern an den Mathematikunterricht in der Schule zurück. Aber manche Kinder haben mit Mathematik Schwierigkeiten, die nicht allein mit Unlust oder einer allgemeinen Abneigung erklärt werden können. Sie leiden an Dyskalkulie oder Rechenschwäche, einer Entwicklungsverzögerung des mathematischen Denkens. Häufig machen sie dabei Fehler, die auf begrifflichen Verinnerlichungsproblemen beruhen. Mit einer subjektiven, eigenen Logik werden bei ihnen Rechenfehler sozusagen systematisiert.
Kinder mit Rechenschwäche zeigen zumeist schon in der ersten Klasse Auffälligkeiten beim Umgang mit Mengen und Zahlen. Oft treten dann in der zweiten Klasse gravierende Probleme durch die Erweiterung des Zahlenraumes bis 100 auf, die – sofern sie nicht therapiert werden – im dritten Schuljahr beim Kind mit Mutlosigkeit und Frustration einhergehen.
Deutschland hat sich 2007 erstmals seit 1995 wie der an der internationalen Schulleistungsstudie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) beteiligt, um die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen der Schüler am Ende der vierten Klasse zu untersuchen. Danach gelingt es den deutschen Grundschulen zwar, die Leistungsunterschiede ihrer Schüler in Mathematik im internationalen Vergleich relativ gering zu halten. Allerdings ist auch festzustellen, dass 22 Prozent der Schüler in Mathematik zur Gruppe der leistungsschwächeren Kinder gehören. In den Spitzenstaaten liegt dieser Anteil deutlich darunter.
Bis zu fünf Prozent aller Grundschüler gelten neueren Studien zufolge sogar als massiv „rechenschwach“. Sie sind trotz schulischer Fördermaßnahmen, trotz noch so zeitaufwendigem Üben zu Hause nicht in der Lage, auch nur die einfachsten mathematischen Kenntnisse vorzuhalten. Betroffene Schüler weisen selbst bei den Grundlagen (Mengenverständnis, Zahlbegriff, Grundrechenarten, dezimales Stellenwertsystem) große Probleme auf. „Das führt zum Teil so weit, dass Kinder den Schulbesuch ganz verweigern und nur mit medizinischer und psychologischer Hilfe wieder schulfähig gemacht werden, ohne dass das eigentliche Problem, die Rechenschwäche, überhaupt erkannt worden ist“, sagt Inge Palme, Referentin für Beratung und Fortbildung beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.
Eine Rechenschwäche gibt sich eben nicht von selbst. Sie ist schon gar nicht durch zusätzliches Üben zu beheben. Entscheidend ist vielmehr ein frühes Erkennen der vielfältigen Auffälligkeiten beim Rechnen im ersten oder zweiten Schuljahr, um rechtzeitig gezielte Fördermaßnahmen einzuleiten. Das setzt allerdings ein spezielles Wissen über die Diagnostik und die daraus resultierenden therapeutischen Möglichkeiten voraus.
Schon im Kindergarten und in den ersten zwei Schuljahren sollten Pädagogen auf Anzeichen der Rechenschwäche achten. In diesem Alter werden bereits die Fundamente für ein mathematisches Verständnis gelegt. Inge Palme: Es wäre erstrebenswert, wenn Eltern in Vorsorgeuntersuchungen gezielt gefragt würden, inwieweit die notwendigen Vorkenntnisse für ein mathematisches Verständnis bei ihren Kindern dem Alter entsprechend entwickelt sind. Zentral geht es dabei um die Begriffserklärung der Mengenbildung.
Auch die Kinderärzte spielen eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Teilleistungsstörungen, da sie die Kinder im Vorschulalter kontinuierlich bei den Früherkennungsuntersuchungen beobachten und deren Entwicklung deshalb gut beurteilen können. Durch ihre Qualifikation und Intervention können sie helfen, Entwicklungsrückstände rechtzeitig zu erkennen und Fördermaßnahmen einzuleiten.
„Mit vier Jahren ist die Vorsorgeuntersuchung U8, mit fünf Jahren die U9 vorgesehen, bei denen Meilensteine der Entwicklung im Rahmen der körperlichen Untersuchung erfasst werden. Für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen sind danach bis zur J1 mit 12 bis 14 Jahren keine weiteren Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen“, sagt allerdings Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder und Jugendärzte BVKJ. „Wir Kinder- und Jugendärzte halten drei weitere Vorsorgeuntersuchungen für sinnvoll. Eine davon ist die U10 im siebten bis achten Lebensjahr, bei der vor allem Probleme, die in den ersten beiden Schuljahren deutlich werden, wie beispielsweise Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie, aber auch die AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), untersucht werden“, sagt Hartmann.
Die Kinder- und Jugendärzte hätten das gesamte Programm der wichtigen Untersuchungen inhaltlich überarbeitet, damit Entwicklungsrückstände und Teilleistungsstörungen erkannt und die Kinder gezielter therapiert und gefördert werden können, so der BVKJ-Präsident. Zudem biete der Verband unter
www.kinderaerzte-im-netz.de in der Rubrik „Im Focus“ weitere Informationen an.
So sehen zum Beispiel die Testanforderungen für Fünfjährige aus: Bei der Zähl- und Ziffernschreibfähigkeit im Zahlenraum bis 10 sollte das Kind die Zahlen bis 10 kennen und von 10 an möglichst auch rückwärts zählen können. Zudem muss absehbar sein, dass das Kind die Ziffern auch schreiben kann.
Beim Zahlverständnis sollte das Kind in der Lage sein, die Zahl als Stellvertreter für Mengen zu verstehen. Eine Simultanerfassung der Mengen bis vier sollte möglich sein beziehungsweise bis zur Einschulung hergestellt werden.
Bei der Mengenkonstanz und Invarianz sollte das Kind verstehen, dass eine räumliche Veränderung von Elementen keinen Einfluss auf die Anzahl der Elemente hat und daher nicht nach einer Raum-Lage-Veränderung erneut gezählt werden muss. Liegen all diese Fähigkeiten bei einem Kind vor, sind die Prognosen für die erste Klasse gut. Das darf aber nicht mit einer Garantie dafür verwechselt werden darf, dass das Operieren mit den Zahlen als Stellvertreter von Mengen auch im Übergang zur zweiten Klasse auf der abstrakten Ebene gelingt.
Die Probleme bei Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. „Sie können die Schullaufbahn sowie das gesamte spätere berufliche und soziale Leben negativ beeinflussen“, sagt Hartmann. Da sich eine Rechenschwäche nicht „auswächst“, sind Symptome, wie sie in der Grundschule auftreten, auch in den weiterführenden Klassen zu finden. Der gemeinnützige Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung hat drei Symptomfragebögen für Eltern herausgegeben, die unentgeltlich unter
www.arbeitskreis-lernforschung.de abgerufen werden können. Sie sind jeweils für Schüler der ersten Klasse, der zweiten bis vierten Klasse und der Klassen fünf bis zehn bestimmt. Darüber hinaus bietet das Zentrum einen umfassenden, allerdings kostenpflichtigen Katalog für die Klassen eins bis fünf an, der sich an Ärzte, Lehrer und Beratungsstellen wendet. Auf der Internetseite
www.arbeitskreis-lernforschung.de finden sich Adressen von Einrichtungen, die Eltern und Kindern weiterhelfen, damit die Mathematik nicht zu einer verpassten Chance wird.
Gifhorner Rundschau vom 24. Mai 2008 |
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Wenn Kinder plus und minus an den Fingern abzählen
Rechenschwäche betrifft oft Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom
ADHS-Gesprächskreis lädt zum Vortrag mit Wissenschaftler ein
von Angelika Albert
Statt mit Zahlen zu rechnen, zählen sie bei „plus“ an den Fingern mühsam hoch und bei „minus“ runter. Auch aufgeweckte Kinder verwechseln die Grundrechenarten wie Addition und Subtraktion, besonders „geteilt“ stellt sie vor unüberwindbare Hürden. Solche Kinder leiden unter Rechenschwäche – auch Dyskalkulie genannt.
Wer den Zugang zu den Zahlen nicht findet, kann die Stufen der Mathematikleiter nicht erklimmen. Und wer das Dividieren nicht beherrscht, wird spätestens an der Bruchrechnung scheitern. Eine rechtzeitige und gezielte Förderung hilft diesen Kindern, den Teufelskreis von schlechten Leistungen, Frust, Angst und Kummer zu durchbrechen, damit das Rechnen nicht zur Qual wird.
Rechenschwäche, was ist das?
Hyperaktivität und Dyskalkulie treten nicht grundsätzlich gemeinsam auf. Trotzdem können die Begleiterscheinungen des ADHS eine Rechenschwäche durchaus verursachen oder verstärken.
Neben den Problemen, die bei Kindern mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS auftreten, oder Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, sind es diese Kinder, die ein nur geringes Verständnis von Zahlen und Mengen entwickelten. Um auf die Probleme aufmerksam zu machen, veranstaltet der ADHS-Gesprächskreis Sassenburg einen Vortrag mit dem Thema „Die Qual mit der Zahl“.
„Da Kinder mit ADHS große Schwierigkeiten mit der Steuerung ihrer Aufmerksamkeit haben, kommt es immer wieder zu gravierenden schulischen Problemen“, sagt Margit Tütje-Schlicker, Vorsitzende des ADHS-Gesprächskreises Sassenburg. „Aufklärung und Information zum Thema Dyskalkulie und ADHS sind deshalb so wichtig, weil bei etwa 30 Prozent der ADHS-Betroffenen auch eine Rechenschwäche festgestellt wird. Auch in unserer Gruppenarbeit stellen wir häufig sogenannte Begleitstörungen fest, am häufigsten Lese-Rechtschreibschwäche oder eben die Dyskalkulie“, sagt die Leiterin der Selbsthilfegruppe.
Nach Schätzungen von Experten haben in Deutschland vier bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen ernsthafte Probleme beim Rechnen. Festgestellt wird die Rechenstörung meist erst in der 3. oder 4. Klasse, wenn die Mathe-Note deutlich von den anderen Zensuren abweicht. Ein Teufelskreis für Kinder, aber auch für Eltern. Dabei gibt es Warnsignale. Betroffene Kinder wirken im Unterricht oft ratlos und verunsichert, quälen sich mit den Hausaufgaben herum und vergessen mühsam Erlerntes schon wieder nach ein paar Tagen. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass die Zahlen nicht als Stellvertreter für Mengen verstanden worden sind.
Um der Problematik ADHS und Dyskalkulie auf den Grund zu gehen, lädt der ADHS-Gesprächskreis Eltern und Interessierte zu einer Informationsveranstaltung, am Dienstag, 27. Mai 2008, um 18 Uhr unter dem Motto „Rechenschwäche – die Qual mit der Zahl“ in die Grundschule Sassenburg, Hauptstraße 100, ein.
Dyskalkulie rechtzeitig erkennen
Was Dyskalkulie ist und wie die Auswirkungen im Mathematikunterricht für die Kinder, die diese Schwäche haben, aussehen, darüber wird der wissenschaftliche Leiter des Institutes für mathematisches Lernen Braunschweig,
Dr. Michael Wehrmann, an diesem Abend informieren. Er plädiert für eine gezielte Förderung, die schon früh beginnen müsse. „Rechtzeitige Förderung bei rechenschwachen Kindern sind für den Erfolg in der Schule und im späteren Beruf von großer Bedeutung“, sagt
Dr. Wehrmann.
„Ich würde es sehr begrüßen, wenn schon im Kindergarten erkannt würde, dass sich eine Rechenschwäche oder auch eine Aufmerksamkeitsstörung, also ein ADHS, abzeichnet. Dann kann noch einiges getan werden, um den Verlauf günstig zu beeinflussen. Das wiederum würde allen Beteiligten zugute kommen. Dazu müssten aber entweder die Erzieherinnen geschult werden oder aber die Möglichkeit haben, entsprechende Fachkräfte einzubeziehen“, sagt Margit Tütje-Schlicker.
Stichwort ADHS
ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) ist die häufigste und meist chronisch verlaufende Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Ungefähr drei bis sechs Prozent aller Kinder sind davon betroffen, Jungen rund drei bis neunmal häufiger als Mädchen. Unter ADHS wird eine verminderte Fähigkeit zur Selbststeuerung verstanden. Sie äußert sich meist in Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, ausgeprägter körperlicher Unruhe und impulsivem, unüberlegtem Handeln. Die Symptome sind bei jedem Betroffenen individuell ausgeprägt. Gehäuft treten weitere Erkrankungen im Zusammenhang mit ADHS auf. Infos:
www.adhs-deutschland.de
Kriterien für Dyskalkulie
Aus dem mathematischen Bereich:
- Das Kind rechnet Aufgaben zählend.
- Das Kind kann nur mit Anschauungsmaterial rechnen.
- Das Kind rechnet nach einem Schema. Verändert sich die Aufgabenstellung, weiß es nicht mehr, was es tun soll.
- Üben nützt überhaupt nichts. Heute im Mathematikunterricht Gelerntes ist in ein paar Tagen schon wieder vergessen.
Aus dem alltäglichen Bereich:
- Das Kind klagt über Bauch- oder Kopfschmerzen, oder es klagt über Übelkeit.
- Das Kind hat Probleme im Umgang mit Geld, mit der Zeit.
- Das Kind wird ängstlich und anhänglich – oder aggressiv.
Aus dem Lernverhalten:
- Das Kind blockt ab, wenn es um Mathematik geht.
- Das Erledigen der Mathematik-Hausaufgaben nimmt ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch.
- Das Kind sucht verzweifelt nach einem Schema. Wechselt der Aufgabentyp, weiß es nicht mehr, was es machen soll.
Wolfenbütteler Zeitung vom 25. Juli 2007 |
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Magenschmerzen wegen Mathe
Neunjähriges Mädchen aus Cremlingen leidet an einer Entwicklungsverzögerung im rechnerischen Denken
von Christine Pelz
Das Ergebnis der Rechenaufgabe 5 · 4 kommt wie aus der Pistole geschossen: „20“, sagt Lisa Kursawe. Selbstverständlich ist dies für die Neunjährige nicht. Lisa leidet an Dyskalkulie, einer Rechenschwäche.
Nach einem mehrwöchigen Fehlen in der 2. Klasse fand das Mädchen nicht mehr den Anschluss im Matheunterricht. „Sie hatte morgens Magenschmerzen, wollte nicht zur Schule und hatte regelrecht Angst vor Mathe“, erinnert sich die Mutter Tanja Kursawe.
Immer wieder übten die Eltern mit dem Mädchen, sprachen mit der Lehrerin, kamen aber letztlich nicht weiter. Schließlich ließ ein Zeitungsbericht über Dyskalkulie die Eltern aufhorchen. Anfang der dritten Klasse ließen sie ihre Tochter im Institut für Mathematisches Lernen in Braunschweig testen.
Im Gutachten nun steht es schwarz auf weiß: Die Neunjährige leidet an einer Dyskalkulie leichten bis mittleren Ausprägungsgrades und damit an einer Entwicklungsverzögerung im rechnerischen Denken. Bislang konnte sich Lisa noch keinen fundierten kardinalen Zahlenbegriff erarbeiten.
Das aber soll sich ändern. Einmal wöchentlich erhält sie in besagtem Institut Förderunterricht und bekommt Hausaufgaben. „Das läuft zunächst, bis sie den Anschluss an den Schulstoff wiedergefunden hat“, erklärt die Mutter. Wie lange das dauern wird, könne derzeit niemand sagen.
Lisa indes hat gelernt, mit ihrem Problem offen umzugehen. Ihre Freunde wissen um die Rechenschwäche. „Die sagen, dass ich mehr üben muss und dass sie mich trotzdem mögen.“ Erste Erfolgserlebnisse lassen das Selbstbewusstsein des Mädchens langsam wieder wachsen.
Anders bewertet wird sie dennoch nicht. „Ich denke, dass es einfacher wäre, wenn es für diese Kinder eine andere Regelung gäbe“, sagt Tanja Kursawe. Doch die Lehrer hätten deutlich gemacht, dass sie trotz der Diagnose keine Rücksicht nehmen könnten. Sie hätten jedoch Kontakt zum Mitarbeiter des Instituts, der Lisa einmal wöchentlich unterrichtet. Zudem nehme sie am Förderunterricht Mathe in der Schule teil.
Lisas Zwillingsschwester Lena übrigens ist nach Angaben der Mutter eine „Mathe-Überfliegerin“: Sie beteilige sich an Wettbewerben und schreibe gute Zensuren.
Die Eltern indes sind froh, herausgefunden zu haben, woran es liegt, dass Lisa in Mathe bislang nicht mitkommt. „Wir sehen es gelassener als vorher und wissen, dass sie im Institut in professionellen Händen ist.“
Fakten
- Der Begriff „Dyskalkulie“ stammt aus dem Griechischen. Die Vorsilbe „dys“ bedeutet schwierig, schwer, „kalkulie“ hingegen (be-)rechnen, überlegen und ebenso in Erwägung ziehen.
- Genau wie bei der Legasthenie handelt es sich bei der Dyskalkulie um eine Teilleistungsstörung, die bei normaler beziehungsweise überdurchschnittlicher Intelligenz auftreten kann.
- Die Dyskalkulie umfasst Probleme in mathematischen Grundlagen, unter anderem in den Grundrechenarten.
Nicht jedes richtige Ergebnis beruht auf Verständnis
Mit dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Mathematisches Lernen in Braunschweig,
Dr. Michael Wehrmann, sprach Redakteurin Christine Pelz.
Wehrmann lebt in Wolfenbüttel und hat über qualitative Diagnostik der Rechenschwäche promoviert.
Herr Dr. Wehrmann, wie erkenne ich bei einem Kind Dyskalkulie?
Indem ich genau hinschaue und sehe, ob es bei einfachen Aufgaben alles von vorne abzählen muss. Es erkennt dann in einfachen Bereichen keine Zusammenhänge. Nicht jedes falsche Ergebnis beruht auf Unkenntnis, aber auch nicht jedes richtige auf Verständnis.
Worin hat Dyskalkulie ihre Ursache?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Erbliche Faktoren kenne ich nicht. Eine seltene Möglichkeit ist eine Schädigung des Gehirns. Sie kann aber beispielsweise auch lediglich auf mangelnden vorschulischen Voraussetzungen beruhen.
Warum führt diese Rechenschwäche nicht zu einer anderen Bewertung im Unterricht?
Oft haben Lehrer sich noch gar nicht mit der Problematik auseinander gesetzt. Es gibt seit 2005 einen Erlass des Kultusministeriums, der Legasthenie und Dyskalkulie gleichsetzt. Die Schule wird damit gefordert, genau hinzusehen. Es ist allerdings im Ermessen der Schule, wie dies in die Bewertung einfließt. Im Erlass ist die Rede von entlastenden Maßnahmen. Das kann auch heißen, keine normale Leistungsbewertung vorzunehmen.
Was kann getan werden gegen Dyskalkulie?
Eltern müssen frühzeitig hingucken. Bereits in der 1. Klasse muss ich mein Kind beobachten, wie es mit Zahlen umgeht. Einzelne Rechenoperationen sollten sich Eltern von den Kindern erklären lassen.
Wie viele Fälle aus dem Landkreis Wolfenbüttel betreut Ihr Institut?
Wir haben aus dem Kreis 23 Kinder, aus der Stadt 9. Studien gehen von 5 Prozent aller Grundschüler aus, die Dyskalkulie haben. …
Werden die Kosten erstattet?
Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann das Kind von einem Kinder- und Jugendpsychiater untersucht werden auf eine aus der Dyskalkulie resultierende psychische Störung. Dann kann es vom Jugendamt als förderungswürdig eingestuft werden. Man darf aber nicht vergessen, dass ein solcher Befund immer auch ein Stigma ist. Zum anderen gibt es die VOW-Stiftung for children, die Gelder für Dyskalkulie- und Legasthenie-Fälle zur Verfügung stellt.
Kann Dyskalkulie behoben werden?
Ja, wenn keine medizinischen Ursachen dagegen sprechen. Dann braucht es zwischen ein und drei Jahren Zeit – in Abhängigkeit von vielen Faktoren.
Familienmagazin clic clac vom Monat Juni 2007 |
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Rechenschwäche – die Qual mit der Zahl
Im Institut für Mathematisches Lernen bekommen Schüler Hilfe
von Albrecht Gründler
Löst die zehnjährige Tara aus Braunschweig Rechenaufgaben, dann taucht sie immer wieder in eine fabelhafte Welt der Zahlen ein – und stellt Lehrer und Eltern anschließend gleichermaßen vor Rätsel: Bei 81 – 79 lautet ihre Antwort 18. Warum nur? Tara ist nicht faul, auch Flüchtigkeitsfehler sind nicht ihr Problem. Ihr Vater übte Nachmittage lang mit ihr Mathematik, niemand konnte sich so recht erklären, warum das intelligente Mädchen einen Fehler nach dem anderem machte.
Seit kurzem steht nun fest: Tara hat eine Dyskalkulie (Rechenschwäche). Am IML musste sie in einem Untersuchungsgespräch laut vorrechnen und es stellte sich folgendes heraus: Tara rechnet erst die Zehner 8 – 7 = 1 und dann die Einer 9 – 1 = 8 (weil ja 1 – 9 nicht geht). Die beiden Ziffern zusammengefügt ergibt das „18“ – das ist logisch! Oder besser gesagt „subjektiv logisch“, denn das ist die eigene Mathematik-Welt von Tara.
Für Schüler wie sie haben Zahlen keine quantitative Bedeutung, oft sind Ergebnisse nur auswendig gelernt. Statt zu rechnen zählt Tara an den Fingern, um Aufgaben zu lösen.
Nach jüngsten Studien leiden rund 5 bis 6 Prozent aller Grundschüler unter einer Rechenschwäche. Die Ursachen sind vielschichtig. Bei einer Dyskalkulie gibt es charakteristische Auffälligkeiten: In der ersten Klasse fällt es den Kindern schwer, Mengen richtig einzuschätzen und zu vergleichen. Sie können oft nicht verstehen, dass es bei Zahlen um Anzahl geht – also um ein „wie viel“ – und verlieren darüber schnell den Anschluss. Einfache Fragen wie „Was sind mehr, 7 Elefanten oder 7 Mücken?“ beantworten sie mit „Die Elefanten natürlich!“ Die Rechenarten werden verwechselt, bei Zehnerzahlen schreiben sie die Einer zuerst, Mengen systematisch abzuzählen macht ihnen große Probleme.
Rechenschwache Kinder vermeiden oft den Umgang mit Geld, das Lernen der Uhr fällt ihnen sehr schwer. „Auffällig war bei meiner Tochter, dass sie nur dann etwas einkaufte, wenn ich ihr abgezähltes Geld oder große Scheine mitgab“, sagt Taras Mutter. „Auch verdrehte sie ständig die Zehnerzahlen und wusste nicht – ist das nun 56 oder 65?“
„Das finden wir häufig bei Kindern mit einer Rechenschwäche“, sagt Hermann Theisen, Leiter des Therapie-Zentrums für Rechenschwäche in Hannover. Nach seinen Erfahrungen leiden zudem viele der Schüler mit Dyskalkulie unter einer beträchtlichen Schulangst. Viele zeigen auch Folgesymptome wie Kopf- und Bauchschmerzen. Theisen betont: „Der Blick für entstehende Rechenprobleme sollte schon früh in der Grundschule geschärft werden. Abwarten und üben, üben, üben – das ist bei Rechenschwäche ein gänzlich kontraproduktiver Weg.“
Auch am Gymnasium finden sich Kinder mit Dyskalkulie, weil sie an der Grundschule nicht immer erkannt wird. Lernstarke Kinder entwickeln in Mathe durch Fleiß vielfältige Kompensationsstrategien, lernen auswendig, ohne die Logik zu erfassen. Und mit Einschätzungen wie „Man kann doch nicht überall gut sein!“ verschleiern die Schüler, wie wenig sie in Wirklichkeit vom Rechnen verstanden haben.
Wie sieht nun die fachliche Hilfe für solche Kinder aus? Zunächst fällt auf, dass in den Räumen des IML nichts an die Schule erinnert. Keine Tafeln, überall Teppich – und die Kinder dürfen sich ihren Apfelsaft mit in die Zimmer nehmen. Eine Spielecke lockt mit großen Stoffelefanten. Doch das wichtigste: hier treffen sie andere Kinder mit ähnlichen Schwierigkeiten. Die erste Erfahrung für sie lautet: Ich bin mit meinem Problem nicht allein!
Wir lauschen bei einer lerntherapeutischen Sitzung. Auf den ersten Blick sieht es aus wie in der Schule oder zu Hause, es liegt Material auf dem Tisch, Tara schiebt es hin und her. Doch schon bald fällt der Unterschied auf: Hier sollen nicht möglichst viele Aufgabenpäckchen durch Üben bewältigt werden, sondern über die Handlungen nachgedacht werden.
„Reflektierte Materialhandlung“ heißt dies in der wissenschaftlichen Literatur. Und dieses Konzept, das
Dr. Wehrmann – aufbauend auf seiner Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin – entwickelt hat, wird am IML in Individualtherapie konsequent umgesetzt.
Auch Tara profitiert davon. Nach einigen therapeutischen Sitzungen ist sie begeistert. Zum ersten Mal hat sie wirklich begriffen, warum 4 + 4 acht ergibt – und was das ganze mit 8 – 4 zu tun hat.
Doch damit ist erst ein kleiner Schritt des Weges gegangen, Tara weist einen Lernrückstand von mehreren Jahren auf. „Werden wir erst in der dritten oder vierten Klasse aktiv, kann so eine
Lerntherapie durchaus zwei Jahre oder länger dauern“, erläutert Moira Wagner, die Lerntherapeutin von Tara. „Doch ich bin zuversichtlich, dass uns Mathematik irgendwann nicht mehr so schwer fallen wird“, ergänzt sie. Und Tara nickt ihr dabei lächelnd zu. Dem hätte Tara noch vor einem viertel Jahr nie und nimmer zugestimmt.
Leiden nur Grundschüler unter Dyskalkulie?
Nein, wenn die Probleme nicht erkannt und behoben werden, bleibt die Dyskalkulie bis in höhere Klassen bestehen.
Das muss doch für die Kinder belastend sein?
Oh ja, solche Schüler können sich z. B. am Gymnasium gar nicht mehr bewähren und bilden deshalb häufig auch psychische Störungen aus.
Was empfehlen Sie unseren Lehrkräften?
Nachfragen, wie gerechnet wird und nicht nur auf's Rechenergebnis sehen. Wir bieten Fortbildungen an – dort wird der Blick geschärft für das Zahlverständnis der Kinder.
Was wünschen Sie sich von den Eltern?
Zuallererst das Üben bleiben lassen. Denn wenn Unverstandenes geübt wird, verstärken sich zumeist nur die Probleme.
Ab wann kann man diesen Kindern helfen?
Schon in der 1. Klasse ist Präventionsdiagnostik möglich. Bei Bedarf führen wir eine Frühbegleitung durch: Lerntherapeuten erarbeiten dann fundiert die ersten Lernschritte.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
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Braunschweiger Zeitung vom 07. November 2006 |
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Wenn Mathe zur Qual wird: Hilfe für Kinder mit Rechenschwäche
Annika Blomberg ist rechenschwach – Im Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig bekommt sie Hilfe
von Sandra Sliepen
Wenn Annika rechnet, ist sie hochkonzentriert. 11 plus 13, so lautet ihre Aufgabe. Das zehnjährige Mädchen schaut in die Ferne, geht im Kopf die Rechnung durch, spricht leise vor sich her. Dann hat Annika das Ergebnis. „24“, sagt sie und strahlt.
Nicht immer hat Annika das Rechnen solchen Spaß gemacht. Die Viertklässlerin leidet unter Rechenschwäche, auch Dyskalkulie genannt. Das bedeutet, Annika hat Schwierigkeiten, die Grundrechenarten zu verstehen und umzusetzen. Ihr fehlt das Verständnis für Mengen und Zahlen. Früher waren Mathehausaufgaben für Annika eine Qual. Zuhause übte sie mit ihrer Mutter. Stundenlang saßen sie über den Aufgaben, doch Annika verstand einfach nicht, was die Mutter ihr erklärte. Die Zahlen schwirrten in ihrem Kopf.
Rechnete sie zum Beispiel 81 minus 79 war Annikas Ergebnis stets 18. Wie kam sie darauf? Das Mädchen sah nur vier einzelne Zahlen: 8, 1, 7 und 9. Damit stellte Annika ihre eigene Rechnung auf. Sie zog die 7 von der 8 ab. Dann wollte sie die 9 von der 1 abziehen. Als sie merkte, dass das nicht geht, drehte sie die Zahlen kurzerhand um. 9 minus 1 ergab 8. So hatte Annika zwei Ergebnisse: 1 und 8. Die Zahlen stellte sie dann nur noch nebeneinander.
„Diese Rechnung ist typisch für rechenschwache Kinder“, sagt
Dr. Michael Wehrmann, Leiter des Instituts für mathematisches Lernen in Braunschweig. „Den Kindern fehlt oft das Verständnis, dass die Zahl 81 größer ist als 79“, sagt er. „Sie kennen zwar die Zahlennamen und oft auch ihre Reihenfolge, verbinden sie aber nicht mit einer Anzahlvorstellung.“
Seit Januar 2006 macht Annika eine Therapie im Institut. Einmal die Woche trifft sie sich mit ihrer Lerntherapeutin Moira Wagner. Dann üben sie das Rechnen - ohne Mathebücher und Rechenhefte. Die Therapeutin gibt Annika keine klassische Nachhilfe. „Es geht nicht darum, Annika für Mathearbeiten fit zu machen“, sagt Wagner. „Ihr fehlen noch die Grundlagen. Die viel schwierigeren Prüfungsaufgaben verwirren sie nur.“
Trotzdem ist Annika nicht schlecht in Mathe. Sie brachte stets gute Leistungen mit nach Hause, auf ihrem Zeugnis steht die Note 2. „Ich hatte Glück, dass Aufgaben dran kamen, die ich Zuhause mit Mama geübt hatte“, sagt Annika. Außerdem lernte das Mädchen ganze Rechnungen einfach auswendig.
„Rechenschwache Kinder entwickeln solche Tricks, um auf das richtige Ergebnis zu kommen“, sagt
Wehrmann. „Das Einmaleins kommt zum Beispiel wie aus der Pistole geschossen. Aber die Kinder haben die grundlegenden Zusammenhänge nicht im Ansatz verstanden.“
„Rechenschwache Kinder bekommen oft das Gefühl, sie seien dumm. Das stimmt nicht.“
Haben Lehrer und Eltern die Probleme der Kinder erkannt, folgen Förderunterricht und strenges Pauken. Und immer wieder dieser eine Satz: „Das ist doch so einfach!“ Ein Satz, der vielen Kindern die Tränen in die Augen treibt. „Rechenschwache Kinder bekommen oft das Gefühl, sie seien dumm. Das stimmt nicht. Aber die Mitschüler hänseln sie und die Lehrer werden ungeduldig“, sagt
Wehrmann.
Völlig verschüchtert und ängstlich erlebt er die ersten Stunden mit etlichen von ihnen im Institut. „Viele Kinder glauben, hier ginge es so weiter wie in der Schule“, sagt er. Doch sein Ziel ist es, mit den Kindern über Zahlen zu reden, ihnen die Angst davor zu nehmen und ihnen die Grundlagen noch einmal ganz von vorne zu erklären. „Die meisten sitzen anfangs verkrampft vor mir, einige haben die Augen geschlossen oder zählen mit ihren Fingern unter dem Tisch.“ Denn die Finger zu benutzen, ist oft ab der dritten Klasse verboten. Die Kinder zählen dann heimlich oder denken sich „Luftfinger“ aus, die sie sich im Kopf vorstellen. „Eine unheimliche Anstrengung“, weiß
Wehrmann. Und nicht nur im Matheunterricht: Überall im Alltag werden Kinder mit Zahlen konfrontiert. „Oft haben rechenschwache Kinder Probleme, die Uhr zu lesen“, sagt
Wehrmann.
Seit 2005 gibt es einen Erlass des Kultusministeriums, nach dem die Mathenote bis zur vierten Klasse ausgesetzt werden kann. Annika braucht das nicht. Sie scheut sich nicht mehr vor schwierigen Rechnungen. Etwa zwei Jahre wird ihre Therapie dauern. … Annika macht schon jetzt große Fortschritte. Das harte Pauken Zuhause hat ein Ende, die Mathehausaufgaben sind schneller fertig. Und Annika hat ein großes Ziel: In Mathe genauso gut werden wie ihre Mitschüler. Und ihre Therapeutin ist sicher: „Annika schafft das.“
Das Institut für Mathematisches Lernen (am Steinweg 4 in Braunschweig) bietet Rechenschwäche-Therapien an. Weitere Informationen unter Telefon 0531 - 12 16 77 50 oder unter
www.iml-braunschweig.de.
Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 17. Oktober 2006 |
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Zahlendreher
Viele Schüler haben Probleme mit dem Mathematikunterricht. Etwa fünf Prozent scheitern aber schon an den Grundrechenarten. Doch diese Rechenschwäche, Dyskalkulie genannt, ist therapierbar.
von Gesa Lehrmann
Carolines Hände mit den silber lackierten Fingernägeln liegen ruhig vor ihr auf dem Tisch. Das schmal geschnittene Gesicht wirkt entspannt. Sie spricht ruhig, erinnert sich an die Zeit, als das noch anders war, als jede Rechenaufgabe zur Tortur wurde, das Gesicht verzogen und die Hände verkrampft die Zahlen abfuhren: „Das Ergebnis von 21 minus 19 ist 18“, erklärt Caroline T. „Zuerst rechne ich 2 minus 1. Danach eigentlich 1 minus 9. Da das aber nicht geht, muss ich 9 minus 1 rechnen.“ Das macht 8. Zusammen mit der 1 ergibt das 18. „Früher habe ich tatsächlich nach dieser Methode gerechnet“, sagt die 15-Jährige und zwinkert mit ihren dunkelbraunen Augen. „Inzwischen weiß ich natürlich, dass das falsch ist.“
Caroline leidet unter Rechenschwäche, auch Dyskalkulie genannt. Ihr entzieht sich das Verständnis für Mengen und Zahlen und für den Umgang mit den Grundrechenarten. „Als Caroline fünf Jahre alt war, ist mir aufgefallen, dass ihr das Spielen von Würfelspielen im Vergleich zu anderen Kindern schwergefallen ist“, erzählt Carolines Mutter, Elke T. Sie hat auch gemerkt, dass Caroline Zeitspannen nicht richtig abschätzen konnte – etwa, wann sie wieder zu Hause sein sollte. „Als das Einmaleinslernen bei ihr nur sehr langsam voranging und sie ohne Anschauungsmaterial nicht addieren oder subtrahieren konnte, bin ich mit ihr zu einem Therapiezentrum für Dyskalkulie gegangen“, sagt Grundschullehrerin Elke T.
Die damals achtjährige Caroline besuchte so lange eine Dyskalkulie-Therapie, bis sie wieder auf dem Leistungsstand ihrer Klasse war. „Mir ist die Vorstellung, was hinter all den Zahlen steckt, schon immer schwergefallen“, sagt Caroline, die inzwischen die neunte Klasse des Gymnasiums besucht, und streicht sich eine Strähne ihres braunen Ponys aus der Stirn. „Das hat sich in alltäglichen Situationen bemerkbar gemacht. Beim Kochen hatte ich Schwierigkeiten, wenn das Rezept nur für zwei Personen war, ich aber für sechs Personen kochen wollte“, erinnert sich das zierliche Mädchen. „Beim Pfannkuchenbacken ist mir das Abmessen der Milch und das Wiegen des Mehls schwergefallen.“ Wenn sie daran denkt, dass sie erst gestern ganz selbstverständlich für sich und ihre zwei jüngeren Brüder Eierkuchen zubereitet hat, kann sie selbst nicht mehr nachvollziehen, warum ihr das einmal Schwierigkeiten bereitet hat. Die Probleme liegen bei ihr heute woanders: beim Bruchrechnen. In der siebten Klasse hat sie die Grundlagen dafür nicht verstanden, deshalb macht Caroline jetzt ihre zweite Dyskalkulie-Therapie. Seit drei Monaten fährt sie – so wie heute – jeden Freitag mit dem Bus direkt nach der Schule zum Institut für Mathematisches Lernen in Braunschweig und spricht mit ihrem Lerntherapeuten Markus Brix über Mathematik. Obwohl sie eigentlich viel lieber Leichtathletik trainieren oder Keyboard spielen würde.
Markus Brix sitzt neben Caroline an seinem großen, aufgeräumten Schreibtisch und lässt sich von der Schülerin schildern, wie sie beim Rechnen vorgeht, um ihre Denkwege offen zu legen. „Rechenschwache eignen sich in ihrem Unverständnis oft falsche Strategien im Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen an“, sagt Brix. „Man kann auch ein richtiges Ergebnis herausbekommen und dennoch falsch gedacht haben.“ Rechenschwache Schüler seien Meister im Auswendiglernen und von normalen Schülern im Zahlenraum bis 100 nicht zu schlagen. „Das Einmaleins sagen die meisten Rechenschwachen fehlerfrei auf, weil sie es wie ein Gedicht eingeübt haben“, sagt Brix.
Mit Dummheit oder mit Faulheit hat Rechenschwäche nichts zu tun, da sind sich die Forscher einig. Ein rechenschwacher Schüler kann in außermathematischen Fächern genauso begabt sein wie jeder andere auch. Dennoch kann Dyskalkulie zu ernsthaften Problemen in der Schule führen. Zum Beispiel dann, wenn der Schüler denkt, dass er dumm sei, weil alle bis auf ihn selbst rechnen können. „Daraus kann sich eine Lernunlust ergeben, die bis hin zu einer Schulphobie führen kann“, sagt Lerntherapeut Brix. „Dadurch kann es passieren, dass intelligente Kinder, die lediglich eine Matheschwäche haben, bis zur Sonderschule absteigen.“
So richtig gerne geht auch Caroline nicht zur Schule. Sie hat Glück, denn im Gegensatz zu vielen anderen rechenschwachen Jugendlichen wurde sie nie von ihren Mitschülern wegen ihrer falschen Ergebnisse gehänselt. Dennoch steht sie in der Schule unter großem Leistungsdruck: Seit der fünften Klasse wird sie wie jeder andere Schüler benotet – trotz ihrer Rechenschwäche. Bei Schülern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, sogenannten Legasthenikern, darf laut Beschluss des Kultusministeriums die Schulnote in Deutsch und gegebenenfalls auch in Fremdsprachen bis einschließlich der zehnten Klasse ausgesetzt werden. Bei Rechenschwachen wie Caroline hingegen darf nur die Mathenote ausgesetzt werden. Und das auch nur bis einschließlich der vierten Klasse. „Diese Regelung steht im Einklang mit wissenschaftlichen Untersuchungen, die belegen, dass bei einer systematischen Förderung Rechenschwierigkeiten in der Grundschulzeit abgebaut werden können“, erklärt Georg Weßling, Pressesprecher des niedersächsischen Kultusministeriums.
Dass das so einfach nicht ist, weiß Caroline aus eigener Erfahrung. Sie hat eine Legasthenikerin als Mitschülerin und kann die Ungleichbehandlung nicht verstehen. „Ich musste die achte Klasse wiederholen und laufe ständig Gefahr wegen Mathe, Physik und Chemie wieder sitzen zu bleiben“, sagt Caroline leise. Ein wahnsinniger Druck. Trotzdem setzt sie sich ihm aus, denn sie möchte unbedingt ihr Abitur machen. Und danach vielleicht Geschichte und Deutsch studieren.
Nachgefragt bei
Dr. Michael Wehrmann, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Mathematisches Lernen in Braunschweig
Was sind typische Anzeichen für eine Rechenschwäche?
Rechenschwache müssen häufig jede Rechnung immer wieder von vorne durchzählen. Beim Einkaufen bezahlen sie gerne mit großen Scheinen, können ihr Wechselgeld aber nicht überprüfen. Ein rechenschwaches Kind wirkt meist unkonzentriert, weil es aus dem Fenster oder an die Decke guckt. Es kann aber sein, dass es dabei eifrig zählt. Es sucht nur einen gleichmäßigen Hintergrund, um sich zum Beispiel Klötzchen vorzustellen und diese in Gedanken hin und her zu schieben, weil mit Fingern rechnen ja verboten ist.
Warum hilft Üben allein nicht?
Um Dyskalkulie zu therapieren, müssen die Inhalte verstanden werden. Wenn dieses Verständnis noch nicht vorhanden ist, macht es keinen Sinn zu üben, denn das würde nur eine Perfektionierung der unverstandenen Umgangstechniken bedeuten.
Ist Dyskalkulie überwindbar?
Ja, sofern keine allgemeine Intelligenzminderung oder eine Krankheit vorliegt und die Motivation zum Lernen vorhanden ist.
Welche Schulabschlüsse sind mit einer Rechenschwäche möglich?
Wenn die geistigen Bedingungen dazu vorhanden sind, können Rechenschwache jeden Schulabschluss machen. Es stehen auch alle Berufe offen. Ich kenne sogar eine Rechenschwache, die später Mathematik studiert hat.
Peiner Allgemeine Zeitung vom 17. November 2005 |
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Rechenschwache Kinder sind nicht dumm
Leiter des Instituts für Mathematisches Lernen hält spannenden Vortrag
Was fehlt einem Kind, das in der fünften Klasse nur mit Luftfingern und Eselsbrücken rechnen kann, das ständig Hände und Füße zu Hilfe nimmt und seine Eltern und Lehrer zur Verzweiflung bringt? „Doch wer 9 + 7 nicht zusammenzählen kann, muss weder dumm und schon gar nicht faul sein“, sagte
Dr. Michael Wehrmann, wissenschaftlicher Leiter des IML (Institut für Mathematisches Lernen) in Braunschweig in seinem Vortrag zum Thema Rechenschwäche. „Die Qual mit der Zahl“ wurde von rund 150 Interessierten in der Brunsviga verfolgt.
Rechnen ist ein Kinderspiel – doch für manche Kinder auch eine Fülle schier unlösbarer Aufgabenstellungen. Gelangt die Rechenschwäche, auch Dyskalkulie genannt, heute als Teilleistungsstörung zunehmend in das Bewusstsein der Schulöffentlichkeit, so scheitern nach Schätzungen von Fachleuten rund sechs Prozent an den grundlegenden Anforderungen.
Anhand vieler anschaulicher Beispiele machte
Wehrmann deutlich, mit welchen Schwierigkeiten rechenschwache Kinder und Jugendliche zu kämpfen haben. „Wer grundlegende Zusammenhänge nicht verstanden hat, für den sind Mathe-Aufgaben eine Katastrophe. Das führt nicht selten zu erheblichen Spannungen in der Familie“, so
Wehrmann.
Probleme in Mathe würden oft als Blackout interpretiert. Doch der Absturz in der weiterführenden Schule sei vorprogrammiert, erläuterte der Leiter des Instituts aus seiner langjährigen Praxiserfahrung. „Kinder, die Aufgaben wie 73 – 48 oder 48 + 25 nicht flüssig im Kopf lösen können, müssen im späteren Schulalltag scheitern. Sie haben die Grundrechenarten nicht abgeschlossen und werden diese Probleme ohne gezielte Hilfe nicht mehr los.“
Der Grundstein für Mathematikfähigkeiten werde nach seiner Ansicht bereit im frühen Kindesalter gelegt. „Da hilft kein Pauken, der Dyskalkulie muss grundlegend abgeholfen werden. Erst durch eine
Lerntherapie seien Schüler in der Lage, Mathematik wirklich zu begreifen und nicht durch bloßes Auswendiglernen zu täuschen“, so
Wehrmann.
Die Ursachen für eine Rechenschwäche sind vielschichtig. Eine Förderdiagnostik für Kinder und Jugendliche jeden Alters gibt Aufschluss, ob eine
Lerntherapie erforderlich ist.
Nähere Informationen erhalten Interessierte beim IML, Telefon 0531 - 12 16 77 50 oder im Internet unter
www.iml-braunschweig.de.
Braunschweiger Zeitung vom 01. November 2005 |
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Die tägliche Qual mit der Welt der Zahl
Das Institut für Mathematisches Lernen informiert in der Brunsviga über rechenschwache Kinder
von Harald Duin
„Rechenschwäche: Die Qual mit der Zahl“ – Thema einer Informationsveranstaltung am Donnerstag, 10. November. Beginn ist um 19 Uhr im Kultur- und Kommunikationszentrum Brunsviga, Karlstraße 35. Veranstalter ist das Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig, das vor 3 Jahren gegründet wurde.
Dr. Michael Wehrmann, wissenschaftlicher Leiter des Instituts: „Im Bereich der Dyskalkulie (Rechenschwäche) hat sich einiges getan. Das Kultusministerium hat sich inzwischen dazu durchgerungen, die Dyskalkulie der Legasthenie (Lese- und Rechtschreibschwäche) nahezu gleichzustellen. Ein entsprechender Erlass wird in diesem Schuljahr Rechtskraft erlangen.“
Mittlerweile ist der Dyskalkulie-Ratgeber „Mein Kind ist rechenschwach“ in der 5. überarbeiteten Auflage erschienen. Interessierte Lehrer und Eltern können das 120-seitige Buch im Institut, Steinweg 4, beziehen.
Sind Kinder, die nicht rechnen können, dumm? Das Buch räumt mit diesem Vorurteil gründlich auf. Die Autoren schlagen sich deutlich auf die Seite der Kinder: „Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit Rechenschwierigkeiten mit ihren eigenen Strategien rechnen.“ Wissenschaftler hätten entdeckt: „Rechenschwache Kinder erfinden keine neuen Fehler, die im Schulalltag nicht längst bekannt wären. Wohl aber sind Art und Grund ihrer Fehler, deren Ursprung um Jahre zurückliegen kann, selten ersichtlich.“
Das Buch nähert sich dem komplizierten Thema in einer anschaulichen Sprache. Wertvoll sind am Schluss des Buches die Tipps für das Üben mit rechenschwachen Kindern.
So sollen sich die Eltern davon lösen, auf Antworten lediglich mit „Richtig“ und „Falsch“ zu reagieren. Denn: „Sie haben mit der Nennung einer richtigen Lösung nichts erklärt, sondern nur ihre Autorität ausgespielt.“ Schließlich sollen die Eltern wissen: „Ein rechenschwaches Kind verausgabt wesentlich mehr Energie und Konzentration als ein Kind, das die Dinge einfach beherrscht.“ Der Informationsabend will mit einem neuen Blick auf das Thema gerade Eltern entlasten.
Salzgitter Woche am Sonntag vom 23. Januar 2005 |
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83 – 79 = 16 ? Viele Kinder leiden sehr unter Rechenschwäche
Was viele Eltern nicht wissen: Es gibt Hilfe bei Dyskalkulie
von Frank Groß
Luftfinger, abgekaute Nägel, Schlafstörungen. Das Taschengeld bleibt oft unangerührt. Und 83 – 79 ergibt 16. Zahlen haben keine mengenmäßige Bedeutung, sie sind als Ziffernbilder nur auswendig gelernt. Wie passt das alles zusammen?
Die Wissenschaft nennt es Dyskalkulie, dahinter steht für die betroffenen Kinder eine oft jahrelange Qual: Rechenschwäche. Überforderte Eltern kommen mit den Symptomen nicht zurecht: Die Kinder können scheinbar nicht verstehen, welche Zahl größer und welche kleiner ist, sie schreiben Ziffern seitenverkehrt und verwechseln Rechenarten. Rechenschwache Kinder benötigen immer wieder Zählhilfen: Finger, Zehen, Stifte und, wenn alles nicht mehr ausreicht, die so genannten ausgedachten Luftfinger. Oft gibt es vor den Hausaufgaben Stress und Streit. Lehnen sie wie im Fall der neunjährigen Katrin irgendwann alles, was mit Zahlen zu tun hat ab, werden die Kinder oft als faul oder unwillig beschimpft. Damit sind alle Beteiligten in der Spirale gefangen, die vor allem von einem Gefühl geprägt ist: Angst. Angst vor der Schule, Angst vor Mathe-Hausaufgaben, Angst vor Zahlen.
Zwischendurch kann es kleine, aber trügerische Lichtblicke geben: Die Kinder schaffen es, einfache Aufgaben richtig zu lösen. Dass sie aber die Aufgaben lediglich auswendig gelernt haben, ohne sich die Mengen vorzustellen, bleibt zunächst verborgen.
Beispiel: 4 plus 4 sind 8. Rechenschwache Kinder können sich die Menge 4 (zum Beispiel vier Äpfel) nicht vorstellen. Aufgaben, die in den Zehner- oder Hunderterbereich hineingehen, werden zwangsläufig falsch gelöst, weil sie, vereinfacht ausgedrückt, über die zehn Finger hinausgehen.
Abwarten, üben, üben, üben – das ist nicht der richtige Weg
Es gibt Hilfe. Und die ist gar nicht so weit weg. Nicht etwa üben, üben, üben, sondern der Weg nach Braunschweig bringt Hilfe.
Dr. Michael Wehrmann, Mitautor des Buches „Rechenschwäche Dyskalkulie: Symptome – Früherkennung – Förderung“ ist wissenschaftlicher Leiter des Braunschweiger Instituts für Mathematisches Lernen.
Wehrmann ist sich sicher: „Bei aufkommenden Rechenproblemen ist abwarten und üben, üben, üben der falsche Weg. Die Praxis zeigt, wie wichtig eine differenzierte Diagnose für den Erfolg einer
Lerntherapie ist. Erst ein tiefergehender Blick hinter die erbrachten Leistungen und die kritische Nachfrage, welche Kenntnisse der Schüler wirklich verinnerlicht hat, liefern die Auskunft über die Lernausgangslage.“
Eine deutliche Meinung hat
Wehrmann über klassische Schulleistungstests: „Sie geben bei Problemen immer nur negative Auskünfte über die Unfähigkeit des Schülers.“ In den vergangenen Jahren haben sich stattdessen diagnostische Verfahren etabliert, an deren Ende ein detailliertes Fehlerprofil steht, das auf das Verhältnis zwischen dem Betroffenen und der Mathematik schließen lässt. Darüber hinaus kann der bisherige (Irr-)Weg des Schülers bei seiner mathematischen Begriffsbildung nachvollzogen werden.
Die neunjährige Katrin hat durch besagtes Verfahren und die daraufhin abgestimmte Förderung einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht. Sie hat inzwischen ein Verständnis für Zahlen entwickelt. Ein Mathewunder ist sie dadurch nicht geworden. Etwas viele wichtigeres hat Katrin erlebt: Die Angst vor Mathe ist so gut wie weg.
Eine Frage ist noch unbeantwortet: Wie kam Katrin darauf. dass 83 – 79 die Lösung 16 ergibt? Angelika Albert aus Melle, freie Journalistin und selbst betroffene Mutter, erklärt den Rechenweg: „Statt zu rechnen zählen Kinder wie Katrin an den Fingern, um Aufgaben zu lösen. Bei der Aufgabe 83 – 79 hat sie erst 80 – 70 gerechnet, und weil 3 – 9 „nicht geht“, einfach die Aufgabe umgedreht und bei 9 – 3 drei Schritte rückwärts gezählt, so dass 6 heraus kommt. Und 10 + 6 ist ja wohl 16, oder?“
Wenn der Einstieg in die Welt der Zahlen nicht gelang und grundlegende Dinge unverstanden sind, könnte eine Rechenschwäche vorliegen. Der folgende Fragenkatalog bringt mehr Klarheit:
Mathematischer Bereich:
- Rechnet Ihr Kind Aufgaben stur zählend?
- Benutzt es beim Rechnen permanent die Finger?
- Verwechselt Ihr Kind Vorgänger/Nachfolger einer Zahl?
- Werden die Ziffern in einer Zahl vertauscht (76 statt 67)?
- Lehnt ihr Kind Teilungsaufgaben prinzipiell ab?
- Tauchen bei Lückenaufgaben (x – 3 = 4) Schwierigkeiten auf?
- Rechnet Ihr Kind nach 4 + 5 Aufgaben wie 14 + 5 oder 14 + 15 neu aus?
- Hat es große Schwierigkeiten bei Zehner-/Hunderterübergängen?
- Werden Text- oder Sachaufgaben strikt abgelehnt?
Lernverhalten:
- Vergisst Ihr Kind Rechenaufgaben, die es am Vortag noch konnte?
- Benötigt es auch bei einfachen Aufgaben ungewöhnlich lange Zeit?
- Gibt es beim Mathematik-Üben zu Hause ständig Streit?
- Blockt Ihr Kind nur ab, wenn es um Mathematik geht?
Alltag:
- Klagt Ihr Kind über Bauch-/Kopfschmerzen vor Klassenarbeiten?
- Gibt es große Probleme beim Rechnen mit Euro und Cent?
- Bestehen Schwierigkeiten beim Rechnen mit Größen und Gewichten?
- Fällt es ihrem Kind schwer, die Uhr mit Zeigern zu lesen?
Sie haben viele Fragen mit „ja“ beantwortet? Dann könnte Ihr Kind unter einer Rechenschwäche leiden. Suchen Sie das Gespräch mit Lehrern und/oder lassen Sie sich in einer Facheinrichtung für Dyskalkulie beraten. Adressen und weitere Informationen zum Thema erhalten Interessierte beim Institut für Mathematisches Lernen, Steinweg 4, 38100 Braunschweig, Tel. 0531 - 12 16 77 50 oder im Internet unter
www.zahlbegriff.de.
Wolfenbütteler Schaufenster vom 16. Januar 2005 |
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Wenn Mathe für Kinder zur Qual wird
Es gibt Hilfe für Kinder mit Rechenschwäche
von Angelika Albert
„Rechnen ist doch ein Kinderspiel!“ Für manche Kinder ist es jedoch eine Fülle von schier unlösbaren Aufgabenstellungen. Rund sechs Prozent der deutschen Grundschüler (neuere Untersuchungen gehen von zehn Prozent aus) scheitern an den, nach Schätzungen von Fachleuten, grundlegenden Anforderungen der Mathematik.
Anders als bei der Legasthenie, der Lese-Rechtschreibschwäche, die als Teilleistungsschwäche Akzeptanz findet, stoßen Kinder mit Rechenschwäche häufig noch auf großes Unverständnis. Dabei handelt es sich bei Kindern mit dieser Lernschwäche oft um intelligente Schüler mit vielseitigen Interessen. Durchaus aufgeweckte Kinder verwechseln die Grundrechenarten wie Addition und Subtraktion, missachten die Stellenwerte, schreiben Ziffern seitenverkehrt. Multiplikationsaufgaben werden nur durch reines „Auswendiglernen“ eingeübt – aber vom Kind nicht verstanden oder erfasst und „Geteilt-Aufgaben“ stellen diese Kinder vor unüberwindbare Probleme.
Da hilft kein Pauken – der Rechenschwäche oder Dyskalkulie, wie der Fachbegriff lautet, muss grundlegend abgeholfen werden. „Das Problem bei Schulkindern, die unter Dyskalkulie leiden, ist, dass sich die innere Logik ihres mathematischen Denkens dem Außenstehenden nicht ohne weiteres erschließt“, erläutert Hermann Theisen, Leiter des Therapiezentrums Rechenschwäche/Dyskalkulie in Hannover, die Rechenschwäche. Es fällt im Schulunterricht immer wieder auf, dass es Kinder gibt, die überhaupt keine mathematische Vorstellung haben. Statt mit Zahlen zu rechnen, wird bei „plus“ an den Fingern mühsam „hochgezählt“ und bei „minus“ dann „runtergezählt“. Erst durch die
Lerntherapie seien Schüler und Schülerinnen in der Lage, Mathematik wirklich zu begreifen und nicht „durch bloßes“ Auswendiglernen Eltern und Lehrer „zu täuschen“.
Die Ursachen für eine Rechenschwäche sind vielfältig. Eine Förderdiagnostik gibt Aufschluss, ob eine gezielte
Lerntherapie erforderlich oder ob dem Kind mit einer Förderung durch eine ausgebildete pädagogische Kraft gedient ist.
Früherkennung ist wichtig
Eine nicht erkannte Rechenschwäche schafft viel Leid bei den betroffenen Kindern. Daher muss der Blick für aufkommende Rechenprobleme schon im Anfangsunterricht geschärft werden. Abwarten und üben, üben, üben ist der falsche Weg. Hilfe gibt hier ein neues Buch des Arbeitskreises des Zentrums für angewandte Lernforschung (
www.arbeitskreis-lernfoschung.de) mit dem Titel „Rechenschwäche – Dyskalkulie, Symptome, Früherkennung, Förderung“. Es sind viele Anregungen und Materialien zu finden, wie man sinnvoll mit rechenschwachen Kindern arbeiten kann. Mitautor dieses Buches ist der Leiter des Braunschweiger Instituts für Mathematisches Lernen,
Dr. Michael Wehrmann.
„Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung zum Themenbereich Rechenschwäche/Dyskalkulie, sondern ein Buch aus der Praxis für die Praxis mit vielen Materialien und Anregungen, wie man sinnvoll mit rechenschwachen Kindern und Jugendlichen arbeiten kann“, erläutert
Michael Wehrmann den neuen Fortbildungs-Reader.
Nähere Informationen zum Thema „Rechenschwäche“ erhalten Intressierte, Lehrer und betroffene Eltern beim Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig, Steinweg 4, 38100 Braunschweig, Telefon 0531 - 12 16 77 50 oder im Internet unter
www.zahlbegriff.de. Auch obiges Buch kann dort zum Preis von 10 Euro zuzüglich Versandkosten bestellt werden.
Braunschweiger Zeitung vom 14. November 2003 |
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Welt der Zahlen als Welt der Qualen
Die älteren Lehrer haben während ihres Studiums nichts über Rechenschwäche erfahren
von Harald Duin
Dr. Michael Wehrmann, Braunschweiger Mitautor des gerade erschienenen Werkes
„Rechenschwäche/Dyskalkulie: Symptome – Früherkennung – Förderung“, gehört zu den Unaufgeregten im Lande. Wohl deswegen nehmen seine Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern durchweg einen kooperativen Verlauf.
Es gibt Gründe, beim Thema Rechenschwäche mehr miteinander zu reden. Weil bei einigen Kindern, die rechenschwach sind, Ermahnungen, doch mehr zu üben, völlig fruchtlos bleiben müssen. Und da hilft bei diesen Kindern auch kein Anschauungsmaterial von irgendwelchen Didaktikern, die sich Verständnisbarrieren nur mit Dummheit erklären können.
Im Stadium allseitiger Verzweiflung beginnt üblicherweise die Suche nach den Schuldigen. Die Lehrerin möchte, natürlich, nicht Schuld sein, kann sie sich doch mit dem Hinweis retten, dass die anderen Kinder es doch auch können. Schuld sein wollen auch nicht die Eltern, die doch Stunde um Stunde mit ihrem Kind geübt haben. Bleibt das Kind, das als potenziell Schuldiger auch deswegen leicht zwischen den Fronten aufgerieben wird, weil es die typischen Manöver der Entlastung nicht zur Verfügung hat.
In dem oben erwähnten von
Wehrmann mitverfassten Buch wird der Pädagogikwissenschaftler Ernst Begemann mit einer Aussage über Klassenarbeiten rechenschwacher Kinder zitiert: „Er (der Lehrer) sieht nicht, warum ein Schüler das oder das tut, welche Strategien er anwendet oder welche schematischen Muster er einsetzt. Das Ergebnis ist: Lehrer sehen, wenn sie hinsehen, ‚Ergebnisse‘, und die werden mit ihren ‚richtigen‘ verglichen. Ein richtiges Ergebnis gilt als positive Leistung. Fehler werden als Versagen gewertet, als Nichtkönnen oder Nichtwollen oder als Unaufmerksamkeit interpretiert.“ In diesem Zusammenhang wirkt dann die „Sechs“ für ein rechenschwaches Kind wie der Konter eines unverstandenen Lehrers.
Besuch bei
Wehrmann in seinem Institut für Mathematisches Lernen (IML) – eine Beratungs- und Forschungseinrichtung zur Diagnose, Therapie und Prävention der Rechenschwäche. Nicht alle Lehrer betrachten das Wirken dieser Einrichtung mit vollem Vergnügen. Da geht es auch um die Frage, wer in diesem Spiel eigentlich „Experte“ ist und wer nicht. Und wenn da einer wie
Wehrmann kommt und sagt „Ihr macht da was falsch“, kann das Gespräch schnell zu Ende sein.
Wehrmann zur BZ: „Uns gäbe es doch gar nicht, wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag entspräche.“ Er hat persönlich ein Problem damit, wenn es in Zeugnissen heißt: „Hat das Lernziel nicht erreicht“ oder „Der kleine Stefan müsste mehr üben“.
Wehrmann und seine Mitarbeiter gehen anders ran. Sie unterscheiden nicht zwischen richtig und falsch, möchten vielmehr erst einmal wissen, wie das Kind rechnet. Es kann zum Beispiel sein, dass es Probleme mit der Funktion von Zahlen und Ziffern hat, diesen etwa keine Mengen zuordnen kann. Vielleicht verdreht es die Zahlen, kann Zehnersprünge, für andere kinderleicht, nicht begreifen. Wer einen Ansatz zur Hilfe eines solchen rechenschwachen Kindes sucht, muss erst einmal dessen gedanklichen Kurs beim Rechnen kennenlernen.
Julia Karakaya, Lehrerin an der Grundschule Lehmanger Weststadt und Fachseminarleiterin Mathematik am Studienseminar Braunschweig, zur BZ: „Fast alle meiner Kollegen haben während ihrer Ausbildung (sowohl in der ersten Phase, wie auch um Referendariat) nichts über das Thema Rechenschwäche erfahren. Grundschullehrer müssen Fächer unterrichten, deren Didaktik sie nie studiert haben, dazu gehört auch das Fach Mathematik. Wie sollen diese Lehrer also bei all der genannten Problematik in der Lage sein, ein rechenschwaches Kind optimal zu fördern, auch wenn sie guten Willens sind?“
Wie Julia Karakaya mitteilt, wird in der Lehrerausbildung an der Technischen Universität Braunschweig das Thema Rechenschwäche für die Lehramtsstudenten mit dem Fach Mathematik und dem Schwerpunkt Grundschule seit ca. drei Jahren angeboten. Die bereits unterrichtenden Lehrer haben neuerdings die Möglichkeit, an Lehrerfortbildungen teilzunehmen, die von
Dr. Wehrmann geleitet werden.
Braunschweig Report vom 09. Juli 2003 |
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Rechenschwäche – ein gravierendes Problem an den Grundschulen
Für manche Kinder ist Rechnen gar kein Kinderspiel, sondern eine Fülle schier unlösbarer Probleme. So wie ihre Leidensgenossen, die Legastheniker, mit Lesen und Schreiben zu kämpfen haben, scheitern sie an den grundlegenden Anforderungen der Mathematik.
Unter Rechenschwäche (Dyskalkulie) leiden oft unerkannt etwa fünf Prozent der Grundschüler: ein Teufelskreis von schulischem Versagen und tränenreichem Streit zu Hause hat dabei meistens schon eingesetzt. Das Institut für Mathematisches Lernen nimmt sich der gezielten Förderung rechenschwacher Kinder an und hat jetzt ein Buch zum Thema veröffentlicht. Maren ist zehn Jahre alt und besucht bereits die dritte Klasse. „Jedes Mal ist alles wie weggeblasen“, klagt die Mutter, „wir üben stundenlang Rechenaufgaben und die Mathearbeit wird doch wieder eine fünf!“
So wie Maren geht es vielen Kindern: sie weisen eine Dyskalkulie auf. Am Institut für Mathematisches Lernen in Braunschweigs Stadtmitte wird Rechenschwäche seit Oktober 2002 fachmännisch diagnostiziert und auch therapiert, wenn die Möglichkeiten der schulischen Förderung überschritten sind. „Wir wurden oft gefragt, ob wir unsere Fortbildungs-Materialien nicht gesammelt herausgeben könnten“, so der Leiter des Instituts, Herr
Dr. Wehrmann. Dies ist nun erfolgt.
Für Lehrer, Beratungsstellen und interessierte Eltern ist ein Fortbildungsband mit vielen Texten und Praxismaterialien erschienen: „Rechenschwäche/Dyskalkulie – Symptome, Früherkennung, Förderung“ heißt das 240-seitige Werk, das zum Preis von zehn Euro verfügbar ist. Unter der Telefonnummer 0531 / 12 16 77-50 können Sie das Buch ab sofort vorbestellen. Zudem bietet das Institut für betroffene Eltern und Lehrer unter dieser Nummer jede Woche eine kostenlose Telefonsprechstunde zur Thematik Rechenschwäche an.
Das Institut bietet auf seiner Hompage
www.iml-braunschweig.de zudem zahlreiche Info-Materialien zum Thema Rechenschwäche an. Für weitere Fragen zum Thema Dyskalkulie wenden Sie sich bitte an das Institut für Mathematisches Lernen, Diagnose und Therapie der Rechenschwäche in Braunschweig, Steinweg 4, Tel. 0531 / 12 16 77-50, Fax 0531 / 12 16 77-59,
Bestellung@iml-braunschweig.de
neue Braunschweiger vom 24. Oktober 2002 |
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Wenn Logik nicht logisch ist
Dyskalkulie lässt Kinder an Zahlen verzweifeln
von Marion Korth
Eine kleine Rechenaufgabe zur Einstimmung: Wie viel ergibt 81 minus 79? Zwei, ist doch logisch, oder? Ein Kind, das unter Dyskalkulie leidet, kommt möglicherweise zu einem ganz anderen Ergebnis, nämlich 18.
Die Gesetze der Mathematik verschließen sich Kindern mit Rechenschwäche vollkommen. Sie haben keine Vorstellung von Mengen und Zahlen, begreifen nicht die Prinzipien der Grundrechenarten. Diese Kinder machen aus der Not eine Tugend, entwickeln ihre ganz eigene Logik, um mit den widerspenstigen Zahlen dennoch zu Rande zu kommen. So lässt sich dann auch das Ergebnis 18 erklären. Das Kind trennt die beiden Zahlen, so wird 81 zu acht und eins, die 79 zu sieben und neun. Dann wird „logisch“ weitergerechnet: acht minus sieben ist eins, und weil sich in seinem Verständnis von der Eins keine Neun abziehen lässt, dreht es die beiden Ziffern einfach um, rechnet neun minus eins und erhält eine Acht. Die Eins von der ersten Rechenoperation davorgeschrieben macht 18. Alles klar?
Nur in den seltensten Fällen hat Dyskalkulie krankhafte Ursachen.
Dr. Michael Wehrmann spricht von einer Entwicklungsverzögerung, von gedanklichen Prozessen, die erst angestoßen werden müssen. Und er tritt dem Urteil entgegen, dass Rechenschwäche etwas mit Dumm- oder Faulheit zu tun hat. Täglich hat er mit Kindern zu tun, die auf den abenteuerlichsten Wegen nach der richtigen Lösung suchen und doch immer wieder scheitern müssen, weil sie Grundlegendes nicht verstanden haben. In seinem Institut für Mathematisches Lernen, das vergangene Woche eröffnet hat, will er Kindern einen Ausweg aus der gedanklichen Sackgasse weisen und Erwachsene auf ein Problem aufmerksam machen, das bislang wenig Beachtung fand.
Manchmal hilft alles Pauken nicht
Der Begriff der Dyskalkulie stammt aus dem Jahr 1918. „Aber die moderne Pädagogik beschäftigt sich mit dem Phänomen erst seit den 80er-Jahren“, sagt
Wehrmann. Dabei würden nach einer Untersuchung der Charité Berlin sechs Prozent der Grundschüler an Rechenschwäche leiden. Die Eltern versuchen, ihren Sprösslingen die richtigen Ergebnisse einzupauken. Manchmal mit trügerischem Erfolg: „Die Kinder lernen auswendig, dass drei plus vier sieben ergibt“, sagt
Wehrmann. Aber sie sind aufgeschmissen, wenn die Aufgabe plötzlich umgekehrt heißt: vier plus drei. Was fehlt, ist die Vorstellung von abstrakten Zahlen. Bei zehn ist häufig endgültig Schluss, weil die Kinder nicht mehr Finger zur Verfügung haben, um sich in Einerschritten an die Lösung heranzupirschen.
Unter dem Strich kommt bei der ganzen Paukerei meist nur das heraus: enttäuschte, ratlose Eltern und frustrierte, verunsicherte Kinder. Aus dem oft gehörten Ausspruch „Mathe ist doof“ werde dann oft „Schule ist doof“ – daran zeigt
Wehrmann den Weg in die völlige Verweigerungshaltung auf. Schon während seines Studiums hat den Mathematiker gestört, dass die natürlichen Zahlen offenbar nicht erklärungswert sind. „Da wird gesagt, das ist so, und dann ist das so“, sagt
Wehrmann. Der Mathematiker begann, sich mit Pädagogik zu beschäftigen, hat sich darauf spezialisiert, Methoden zu vermitteln, um Kindern das Unbegreifliche begreifbar zu machen.„Da müssen viele Knoten platzen, aber in durchschnittlich zwei Jahren kann die Rechenschwäche überwunden werden. Ein Mädchen, das bei uns in der
Lerntherapie war, langweilt sich jetzt in der vierten Klasse, ist unterfordert, es hat einfach begriffen, worum es geht.“
Ab der zweiten Klasse kann eine Rechenschwäche diagnostiziert werden. Die Förderung, die
Wehrmann mit seinem Team von Sonderpädagogen, Psychologen und Therapeuten anbietet, ist nicht billig, nur in Einzelfällen ist eine Kostenübernahme möglich. Um das zu ändern, ist noch viel Aufklärung notwendig, damit Dyskalkulie so bekannt wird wie Legasthenie. Mit dem Vortrag „Rechenschwäche: Die Qual mit der Zahl“ am heutigen Donnerstag ab 19 Uhr in der Brunsviga, Karlstraße, macht
Wehrmann den Anfang. Informationen gibt er auch unter Telefon 0531 - 12 16 77 50.
Braunschweiger Zeitung vom 24. Oktober 2002 |
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Lauter Qualen in der Welt der Zahlen
Wie das gerade gegründete Institut für Mathematisches Lernen rechenschwache Grundschüler fördert
von Harald Duin
Der Mann,
Dr. Michael Wehrmann, hat eine Engelsgeduld. Es ist die Geduld eines Wissenschaftlers, der weiß, dass mit Vorwürfen, mit Übungsorgien vor Klassenarbeiten, keinem rechenschwachen Kind geholfen ist. Sechs Prozent der Grundschüler werfen in der Welt der Zahlen alles durcheinander. Tragödien zu Hause („Du kannst ja nicht einmal 13 plus 5 zusammenzählen“), ratlose Lehrer. Deren Ratlosigkeit hat oft genug dazu geführt, dass eigentlich normal intelligente Schüler in die Sonderschule kamen.
Dumm, weil man nicht rechnen kann? Die Einordnung der Erwachsenen tut dem rechenschwachen Kind, das andere Ergebnisse produziert, als erwartet, in der Seele weh. Dabei strengen sich rechenschwache Kinder gedanklich ungeheuer an. Es sind freilich Denkvorgänge der Marke Eigenbau. Eltern und Lehrer verkennen völlig die Schwierigkeiten eines solchen Kindes mit der scheinbar so einfachen Materie der Grundschulmathematik. Diesem Kind will sich die innere Logik mathematischen Denkens nicht erschließen.
In Braunschweig, am Steinweg 4, ist in diesen Tagen das Institut für Mathematisches Lernen eröffnet worden.
Dr. Michael Wehrmann, der mit Inga Diop die Einrichtung leitet, hat sich jahrelang wissenschaftlich mit dem Thema Rechenschwäche (Dyskalkulie) beschäftigt und eine Doktorarbeit darüber geschrieben – Erkenntnisse, die es möglich machen, das rechenschwache Kind effektiv zu fördern.
Wehrmann kommt mit einem Beispiel: mit Sabrina. Sie ist begeistert. Zum ersten Mal hat sie begriffen, warum zwei plus zwei tatsächlich vier ergeben. Auswendig gelernt hatte sie es schon lange, aber eben nie verstanden. Erst in der Therapie vermag die achtjährige Schülerin sich Zahlen als Quantitäten vorzustellen.
Sabrina ist nicht dumm. Aber sie beherrscht in der Welt der Zahlen vieles noch nicht, was von einem gleichaltrigen Kind erwartet wird. Für sie ist das herausgegebene Wechselgeld im Supermarkt eine Glaubensfrage, das Taschengeld darf nur in fünf einzelnen Eurostücken und keineswegs in einem Fünf-Euro-Schein ausgezahlt werden, und den Beginn ihrer Lieblingssendung im Fernsehen verpasst sie regelmäßig – die Uhrzeiger ergeben für sie keinen Sinn! „Phänomene“, so
Wehrmann, „die Eltern und Lehrer gleichermaßen ratlos machen.“ Durchaus aufgeweckte Kinder wissen größer und kleiner, länger und kürzer nicht voneinander zu unterscheiden. Sie verwechseln Grundrechnenarten wie Addition und Subtraktion, missachten Stellenwerte oder schreiben Ziffern seitenverkehrt.
Und nun fängt
Wehrmann in seinem Institut nicht etwa an, mit den ihm anvertrauten Kindern fleißig zu üben. Beim Wort „üben“ macht er regelmäßig ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. Für ein sinnvolles Üben müsse ein Kind erst einmal eine begriffliche Grundlage gewinnen, sonst sei jedes Üben, jedes Pauken von Rechenvorgängen so gut wie sinnlos. Das erklärt auch, warum selbst viele Stunden Nachhilfe oft nichts fruchten.
Persönliches Fehlerprofil
Am Anfang jeder
Lerntherapie stehen Fragen.
Wehrmann möchte einen Dialog mit dem Kind beginnen, dessen Denkstrategien begreifen. Seine Methode der „qualitativen Fehleranalyse“ ermöglicht es, die Quellen der Rechenfehler schrittweise einzugrenzen, bis sich ein individuelles Defizitbild, das persönliche Fehlerprofil, ergibt.
Das Institut für Mathematisches Lernen möchte schon bald einen engen Kontakt zu betroffenen Eltern und Lehrern aufbauen. Es will sich künftig auch um rechenschwache Auszubildende kümmern. Denn diese sind auf dem Arbeitsmarkt nahezu chancenlos. Das Institut versteht sich bei diesem Thema im Übrigen als Fortbildungsstätte. Es will neben Pädagogen auch Mediziner und Psychologen informieren.
Den Eltern möchte
Wehrmann immer wieder sagen: „Ihr Kind ist nicht für seine Rechenschwäche verantwortlich.“ Erbliche Ursachen für diese Defizite nach dem Motto „Dein Opa konnte auch nicht rechnen“ schließt er aus: „Es gibt kein Gen für Rechenschwäche.“